Harry Bosch 07 - Dunkler als die Nacht
Malibu-Erdrutsch aus ihrem Gesicht.
»Was – was machen Sie denn hier?«
»Hallo, Annabelle, wie geht’s?«
»Ich bin zum Vorsprechen hier – Sie können nicht einfach –«
»Sie haben völlig Recht, Sie sind zum Vorsprechen hier, und zwar für Ihre Rolle als Zeugin in einem Mordprozess.«
Die Frau stand auf. Dabei glitten ihr Bewerbungsfoto und ein Lebenslauf vom Tisch zu Boden.
»Sie können nicht einfach – was soll das überhaupt?«
»Sie wissen ganz genau, was das soll. Sie sind umgezogen und haben Ihre neue Adresse nicht hinterlassen. Ihr Agent wollte mir nicht helfen. Deshalb war die einzige Möglichkeit, Sie zu finden, ein Vorsprechen zu inszenieren. Jetzt setzen Sie sich wieder und dann unterhalten wir uns darüber, wo Sie gesteckt haben und warum Sie sich vor dem Prozess drücken.«
»Es gibt also keine Rolle?«
Fast musste Bosch lachen. Sie hatte noch immer nicht kapiert.
»Nein, keine Rolle.«
»Und sie machen kein Remake von Chinatown?«
Diesmal musste er lachen, hatte sich aber rasch wieder im Griff.
»Eines Tages werden sie es bestimmt noch mal verfilmen. Aber Sie sind zu jung für die Rolle und ich bin kein Jake Gittes. Setzen Sie sich bitte.«
Bosch zog den Stuhl ihr gegenüber heraus. Aber sie weigerte sich, Platz zu nehmen. Sie sah sehr attraktiv aus. Sie war eine schöne junge Frau mit einem Gesicht, das ihr oft zu dem verhalf, was sie wollte. Aber diesmal nicht.
»Ich sagte, setzen Sie sich«, erklärte Bosch streng. »Sie müssen sich über eines klar werden, Miss Crowe. Sie haben gegen das Gesetz verstoßen, als Sie der gerichtlichen Aufforderung, heute vor Gericht zu erscheinen, nicht nachgekommen sind. Das heißt, wenn ich will, kann ich Sie jederzeit festnehmen, und dann können wir uns in einer Zelle unterhalten. Die andere Möglichkeit ist, wir unterhalten uns hier miteinander, weil wir diesen schönen Raum zur Verfügung gestellt bekommen haben. Sie haben die Wahl, Annabelle.«
Sie ließ sich auf ihren Stuhl zurücksinken. Ihr Mund war ein dünner, verkrampfter Strich. Der Lippenstift, den sie für das Vorsprechen aufgetragen hatte, begann bereits rissig und abgenutzt auszusehen. Bosch betrachtete sie eine Weile, bevor er begann.
»Wer hat Ihnen gedroht, Annabelle?«
Sie sah ihn scharf an.
»Hören Sie«, begann sie, »ich hatte Angst, ja? Habe immer noch Angst. David Storey ist sehr mächtig. Er hat ein paar Leute hinter sich stehen, bei denen einem richtig angst und bange werden kann.«
Bosch beugte sich über den Tisch.
»Wollen Sie damit sagen, er oder diese Leute haben Ihnen gedroht?«
»Nein, das wollte ich damit nicht sagen. Sie mussten mir nicht drohen. Ich weiß doch, was Sache ist.«
Bosch lehnte sich wieder zurück und beobachtete sie ruhig. Ihre Blicke wanderten zu allen möglichen Punkten des Raums, nur nicht zu ihm. Durch das geschlossene Fenster drang der Verkehrslärm vom Sunset Boulevard herein. Irgendwo im Gebäude wurde eine Klospülung betätigt. Schließlich sah sie Bosch an.
»Was? Was wollen Sie?«
»Ich will, dass Sie vor Gericht aussagen. Ich will, dass Sie diesem Kerl die Stirn bieten. Für das, was er Ihnen antun wollte. Für Jody Krementz. Und Alicia Lopez.«
»Wer ist Alicia Lopez?«
»Noch eine, die wir gefunden haben. Sie hatte nicht so viel Glück wie Sie.«
Ihr innerer Aufruhr war deutlich zu sehen. Ganz offensichtlich empfand sie es als bedrohlich, vor Gericht aussagen zu müssen.
»Wenn ich vor Gericht aussage, bekommen ich nie mehr eine Rolle. Wenn nicht sogar Schlimmeres.«
»Wer hat Ihnen das gesagt?«
Sie antwortete nicht.
»Kommen Sie schon – wer? Haben sie das gesagt oder Ihr Agent, wer?«
Sie zögerte, dann schüttelte sie den Kopf, als könne sie nicht glauben, dass sie mit ihm sprach.
»Ich war im Fitnessstudio und strampelte mich gerade auf dem Stairmaster ab und dann stieg so ein Typ auf das Gerät neben mir. Er las dabei Zeitung. Sie war so gefaltet, dass nur der Artikel zu sehen war, den er las. Ich schenkte ihm keine Beachtung, doch dann fing er plötzlich zu sprechen an. Er sah mich kein einziges Mal an. Er blickte einfach immer weiter auf die Zeitung hinab, während er redete. Er sagte, der Artikel, den er las, wäre über den Prozess gegen David Storey und dass er nur sehr ungern als Zeuge gegen ihn aussagen würde. Er sagte, so jemand würde in L. A. nie mehr Arbeit bekommen.«
Sie hielt inne, aber Bosch wartete. Er betrachtete sie. Die Überwindung, die es sie kostete, die Geschichte zu
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