Harry Bosch 09 - Letzte Warnung
Blick wanderte zum Flachmann, und er brauchte mich nicht zu bitten. Ich hielt ihn an seine rissigen, abblätternden Lippen, und er nahm einen tiefen Schluck daraus. Er schloss die Augen.
»Aah …«, seufzte er. »Ich habe …«
Seine Augen gingen auf und sprangen mich an wie Wölfe, die ein Reh reißen.
»Sie hält mich am Leben«, flüsterte er verzweifelt. »Denkst du etwa, das ist, was ich will? Die Hälfte der Zeit in meiner eigenen Scheiße zu sitzen? Sie kriegt ganz schön Kohle, solange ich am Leben bin – das volle Gehalt und Krankengeld. Wenn ich nicht mehr bin, kriegt sie bloß die Witwenrente. Und ich war nicht so lange dabei, Harry. Vierzehn Jahre. Das ist ungefähr die Hälfte von dem, was sie kriegt, wenn ich am Leben bin.«
Ich sah ihn lange an und fragte mich dabei die ganze Zeit, ob sie an der Tür stand und lauschte.
»Was willst du jetzt eigentlich von mir, Law? Dass ich dir den Stecker rausziehe? Das kann ich nicht. Wenn du willst, besorge ich dir einen Anwalt, aber auf keinen Fall werde ich …«
»Und sie behandelt mich auch nicht gut.«
Ich stutzte wieder. Ich spürte ein leichtes Zupfen in der Magengrube. Wenn stimmte, was er sagte, war sein Leben eine schlimmere Hölle, als ich mir vorstellen konnte. Ich senkte die Stimme, als ich fragte: »Wieso, was macht sie, Law?«
»Sie flippt aus. Sie macht verrückte Sachen. Ich will nicht darüber reden. Es ist nicht ihre Schuld.«
»Jetzt hör mal. Möchtest du, dass ich dir einen Anwalt schicke? Ich könnte auch veranlassen, dass jemand vom Sozialamt vorbeikommt.«
»Nein, bloß keinen Anwalt. Das würde ewig dauern. Auch nicht das Sozialamt. Das will ich nicht. Außerdem möchte ich dich nicht in Schwierigkeiten bringen, Harry. Aber was soll ich machen? Wenn ich selber den Stecker rausziehen könnte, würde ich …«
Er stieß einen Schwall Luft aus. Die einzige Geste, die ihm sein Körper zu machen gestattete. Ich konnte mir seine fürchterliche Frustration nur vorstellen.
»Das ist kein Leben, Harry. Das hat mit Leben nichts zu tun.«
Ich nickte. Nichts von all dem war bei meinem ersten Besuch zur Sprache gekommen. Wir hatten über den Fall gesprochen, über das, woran er sich noch hatte erinnern können. Seine Erinnerungen an den Fall waren bruchstückhaft zurückgekommen. Es war ein schwieriges Gespräch gewesen, aber ohne jede Spur von Selbstekel oder Verzweiflung. Nicht mehr Niedergeschlagenheit, als man erwartet hätte. Ich fragte mich, ob es der Alkohol war, der plötzlich alles hervorgeholt hatte.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte ich. »Mehr kann ich dir nicht versprechen.«
Ich nickte, und seine Augen wandten sich ab, hinauf zum Fernseher, der über meiner linken Schulter war.
»Wie spät ist es jetzt, Harry?«
Diesmal sah ich auf meine Uhr.
»Elf Uhr zwanzig. Wieso die Eile, Law? Erwartest du jemanden?«
»Nein, nein. Da kommt nur auf Court TV eine Sendung, die ich mir gern ansehe. Sie fängt um zwölf an. Rikki Kleiman. Ich finde sie gut.«
»Dann hast du ja noch Zeit, um mit mir zu reden. Warum lässt du dir hier keine größere Uhr aufstellen?«
»Sie will mir keine geben. Sie behauptet, der Doktor hätte gesagt, es wäre nicht gut für mich, auf die Uhr zu schauen.«
»Wahrscheinlich hat sie sogar Recht.«
Es war falsch gewesen, das zu sagen. Ich sah Ärger in seine Augen steigen und bereute meine Worte sofort.
»Entschuldige. Das hätte ich nicht …«
»Weißt du, wie es ist, wenn man nicht in der Lage ist, sein Scheißhandgelenk zu heben, um auf seine blöde Uhr zu sehen?«
»Nein, Law, keine Ahnung.«
»Weißt du, wie es ist, in einen Beutel zu scheißen und ihn von deiner Frau aufs Klo bringen zu lassen? Sie um jeden Dreck bitten zu müssen, einschließlich einen Schluck Whiskey?«
»Es tut mir Leid, Law.«
»Ja, es tut dir Leid. Allen tut es furchtbar Leid, aber niemand …«
Er sprach nicht zu Ende. Er schien das Ende des Satzes abzubeißen wie ein Hund, der ein Stück rohes Fleisch zu fassen bekommt. Er sah weg und schwieg, und ich sagte ebenfalls eine Weile lang nichts, bis ich dachte, sein Ärger wäre seine Kehle hinab und in das scheinbar bodenlose Loch aus Frustration und Selbstmitleid gelaufen, das dort unten war.
»Hey, Law?«
Sein Blick richtete sich wieder auf mich.
»Was ist, Harry?«
Er war ruhig. Der Moment war vorübergegangen.
»Lass uns noch mal ganz von vorn anfangen. Du hast gesagt, du wolltest mich anrufen, weil du etwas vergessen hast. Du weißt schon, als
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