Harry Bosch 15 - Neun Drachen
Ungeachtet Eleanors jüngster Drohung. Ungeachtet der Tatsache, dass die Rettung seiner Tochter vielleicht bedeutete, dass er sie nie mehr wiedersehen würde.
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B osch wartete, bis es dunkel wurde, um bei Bo-Jing Chang einzubrechen. Der Chinese wohnte in einer Doppelhaushälfte, deren Eingang zusammen mit dem der Nachbarwohnung durch einen Windfang geschützt war. Der bot Bosch etwas Sichtschutz, als er mit seinen Picks den Sicherheitsriegel und das Schloss im Türgriff öffnete. Er hatte wegen dieses Gesetzesverstoßes weder Skrupel noch Schuldgefühle. Die Durchsuchung von Changs Auto, Handy und Koffer hatte zu nichts geführt, und jetzt wusste Bosch nicht mehr weiter. Er suchte nicht nach Beweisen, um Chang vor Gericht zu bringen. Er suchte nach etwas, was ihm half, seine Tochter zu finden. Sie war inzwischen über zwölf Stunden verschwunden, und wegen eines Einbruchs seine berufliche Existenz aufs Spiel zu setzen, schien ihm ein sehr geringes Risiko im Vergleich zu den psychischen Qualen, auf die er sich gefasst machen müsste, wenn er sie nicht wohlbehalten zurückbekäme.
Sobald er den letzten Stift in die richtige Position gebracht und den Schließzylinder gedreht hatte, öffnete er die Tür, betrat die Wohnung und verschloss die Tür wieder hinter sich. Die Durchsuchung von Changs Koffer hatte gezeigt, dass Chang nicht vorgehabt hatte, noch einmal in seine Wohnung zurückzukehren. Das hieß jedoch nicht, dass Chang seinen ganzen Besitz in seinem Koffer untergebracht hatte. Es gab bestimmt Dinge, die er nicht mitgenommen hatte. Dinge, die ihm wenig bedeuteten, aber Bosch hilfreiche Aufschlüsse geben konnten. Unter anderem hatte Chang irgendwann vor der Abfahrt zum Flughafen seinen Boarding Pass ausgedruckt, und weil er unter ständiger Beobachtung gestanden hatte, wusste Bosch, dass Chang unterwegs nirgendwo angehalten hatte. Deshalb ging er davon aus, dass es in der Wohnung einen Computer und einen Drucker gab.
Bosch blieb dreißig Sekunden an der Tür stehen und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sobald er halbwegs etwas erkennen konnte, ging er ins Wohnzimmer. Er stieß gegen einen Stuhl und warf beinahe eine Lampe um, bevor er den Lichtschalter fand und Licht machte. Dann ging er rasch zum Fenster und zog die Vorhänge zu.
Erst jetzt sah er sich um. Er befand sich in einem kleinen Wohn- und Esszimmer mit einer Durchreiche zur Küche. Rechts führte eine Treppe zu einer Schlafgalerie hinauf. Auf den ersten Blick waren keine persönlichen Gegenstände in der Wohnung zu sehen. Kein Computer, kein Drucker. Nur Möbel. Bosch durchsuchte rasch das Zimmer und ging in die Küche weiter. Auch dort gab es keine aufschlussreichen Dinge. Die Küchenschränke waren leer, nicht einmal eine Packung Cornflakes hatte Chang zurückgelassen. Der Mülleimer unter der Spüle war geleert und mit einem neuen Müllbeutel ausgekleidet.
Bosch kehrte ins Wohnzimmer zurück. Am Fuß der Treppe war ein Lichtschalter mit einem Dimmer, mit dem sich die Deckenlampe im Schlafzimmer regeln ließ. Nachdem er sie auf eine geringe Helligkeit eingestellt hatte, ging er zur Wohnzimmerlampe und schaltete sie aus.
Die spärliche Einrichtung des Schlafzimmers beschränkte sich auf ein schmales Doppelbett und eine Kommode. Es gab weder einen Schreibtisch noch einen PC . Rasch ging Bosch zur Kommode. Alle Schubladen waren ausgeräumt worden. Auch der Abfallkorb und der Arzneischrank im Bad waren leer. Er hob den Deckel des Spülkastens an, aber auch dort war nichts versteckt.
Die Wohnung war vollständig ausgeräumt worden. Das musste passiert sein, nachdem Chang zum Flughafen losgefahren war und das Haus nicht mehr unter Beobachtung gestanden hatte. Bosch dachte an den Anruf von Tsing Motors, der im Anrufverzeichnis von Changs Handy registriert war. Vielleicht hatte Chang beim Verlassen der Wohnung Vincent Tsing kurz Bescheid gegeben, und der hatte sie reinigen und alle persönlichen Dinge entfernen lassen.
Bosch hatte das Gefühl, nach allen Regeln der Kunst ausgetrickst worden zu sein, und beschloss in seinem Frust, im Müllcontainer der Wohnanlage nach Müllbeuteln aus Changs Wohnung zu suchen. Vielleicht waren sie so unvorsichtig gewesen, Changs Müll dort zu entsorgen. Eine weggeworfene Notiz oder ein Zettel mit einer Telefonnummer konnten sich als hilfreich erweisen.
Bosch wollte gerade wieder nach unten gehen, als er einen Schlüssel in der Wohnungstür hörte. Er machte rasch kehrt und versteckte
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