Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
Verlies, und wenn mich nicht alles täuscht …«
Er beugte sich über den Tisch und fuhr mit einem gepressten Flüstern fort:
»… könnte das meine Tochter sein!«
»Moment, Moment, Harry«, sagte Maggie. »Jetzt noch mal ganz von vorn. Er baut ein Verlies? Wo?«
»Unter dem Pier. Dort gibt es mehrere Verschläge. An einem davon hat er ein Vorhängeschloss anmontiert, und gestern Abend hat er eine Tüte mit Lebensmittelkonserven hingebracht. Als ob er vorhätte, jemanden längere Zeit dort einzusperren.«
»Das ist allerdings wirklich bedenklich«, sagte Maggie. »Aber wieso deine Tochter? Woher willst du das wissen? Du hast selbst gesagt, er ist nur ein einziges Mal bei deinem Haus gewesen. Wie kommst du darauf …«
»Weil ich es mir einfach nicht leisten kann, diese Möglichkeit nicht in Erwägung zu ziehen. Verstehst du?«
Sie nickte.
»Ja, ich weiß. Dann noch mal zurück zu dem, was ich eben vorgeschlagen habe. Wir führen an, dass er mit einem Kriminellen – diesem Waffenhändler – Kontakt aufgenommen hat, und machen aufgrund dessen seine Haftbefreiung rückgängig. Der Prozess dauert nur noch wenige Tage, und entgegen unseren Erwartungen hat er sich zusammengerissen und keine Dummheit gemacht. Deshalb schlage ich vor, wir gehen auf Nummer sicher und sperren ihn wieder ein, bis alles vorbei ist.«
»Und was ist, wenn er nicht verurteilt wird?«, hielt ihr Bosch entgegen. »Was dann? Wenn er freikommt, wird er auch nicht mehr observiert. Dann kann er machen, was er will, und kein Mensch hat mehr ein Auge auf ihn.«
Daraufhin legte sich betretenes Schweigen über den Tisch. Ich sah Bosch an und merkte, unter welchem Druck er stand. Der Fall, die Bedrohung für seine Tochter und keine Frau oder Ex-Frau, die ihm zu Hause zur Seite stand.
Schließlich brach Bosch das lastende Schweigen.
»Maggie, nimmst du Hayley heute Abend mit zu dir nach Hause?«
Maggie nickte.
»Ja, wenn wir hier fertig sind.«
»Könnte Maddie heute vielleicht bei euch übernachten? Sie hat in ihrem Rucksack frische Sachen dabei. Ich würde dann morgen früh vorbeikommen und sie in die Schule bringen.«
Die Bitte schien Maggie zu überraschen, zumal sich die Mädchen gerade erst kennengelernt hatten. Bosch setzte nach.
»Wie ich schon sagte: Ich muss mich heute Abend noch mit jemandem treffen und kann noch nicht absehen, wohin das Ganze führt. Möglicherweise sogar zu Roman. Deshalb muss ich mich ganz den Erfordernissen der Situation anpassen können, ohne mir um Maddie Gedanken machen zu müssen.«
Maggie nickte.
»Klar, kein Problem. Wie es sich anhört, kommen die beiden sowieso schon recht gut miteinander klar. Ich hoffe nur, sie bleiben nicht die ganze Nacht auf.«
»Danke, Maggie.«
Nach etwa einer halben Minute Schweigen sagte ich:
»Erzähl mal, Harry. Was genau hat es mit diesem Verlies auf sich?«
»Ich habe gestern Nacht darin gestanden.«
»Warum am Santa Monica Pier?«
»Wahrscheinlich wegen der Nähe zu dem, was oben auf dem Pier ist.«
»Beute.«
Bosch nickte.
»Aber was ist mit den Geräuschen? Hast du nicht gesagt, es ist direkt unter dem Pier?«
»Zum einen lässt sich unterbinden, dass ein Mensch Geräusche macht. Zum anderen haben gestern Nacht die Wellen, die sich an den Stützen unter dem Pier gebrochen haben, einen solchen Lärm gemacht, dass du dir die ganze Nacht die Lunge aus dem Leib brüllen könntest, ohne dass dich ein Mensch hört. Wahrscheinlich wäre von dort unten nicht mal ein Schuss zu hören.«
Bosch sprach mit spürbarem Wissen um die finsteren Orte der Welt und das Böse, das sie bargen. Mir verging der Appetit, und ich schob meinen Teller weg. Mich beschlich tiefe Furcht.
Furcht um Melissa Landy und all die anderen Opfer dieser Welt.
36
Mittwoch, 7. April, 23:00 Uhr
G ilbert und Sullivan warteten in einem Wagen auf ihn, der im Lankershim Boulevard stand, nicht weit von der Stelle, wo er an der San Fernando Road endete. In dem heruntergekommenen Gewerbegebiet, in dem sich vorwiegend Gebrauchtwagenhändler und Reparaturwerkstätten angesiedelt hatten, gab es ein Motel, in dem man für fünfzig Dollar die Woche ein Zimmer bekommen konnte. Einen Namen hatte die Absteige anscheinend nicht. Auf dem Leuchtschild stand nur MOTEL .
Gilbert und Sullivan waren Gilberto Reyes und John Sullivan, zwei Drogenfahnder des Valley Enforcement Team, das für die Bekämpfung von Drogenkriminalität in kleinem Maßstab zuständig war. Gleich zu Beginn seiner Suche nach Edward Roman
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