Harry Bosch 16 - Spur der toten Mädchen
war ein blutloses Einschussloch. Von der Austrittswunde an seinem Hinterkopf war Blut über den Rücken seines Sakkos und über die Stuhllehne geflossen.
Royce’ Ermittlerin, Karen Revelle, lag an der zweiten Tür auf der anderen Seite des Zimmers auf dem Boden. Es sah so aus, als hätte sie zu fliehen versucht, bevor sie von den Schüssen getroffen worden war. Sie lag mit dem Gesicht nach unten, und Bosch konnte nicht sehen, wo oder wie oft sie getroffen worden war.
Royce’ hübsche Assistentin, an deren Namen sich Bosch nicht mehr erinnern konnte, war nicht mehr hübsch. Sie saß Royce schräg gegenüber. Ihr Oberkörper war auf den Tisch gesunken, und in ihrem Hinterkopf klaffte eine Einschusswunde. Die Kugel war unter ihrem rechten Auge ausgetreten und hatte ihr Gesicht entstellt. Beim Austritt entstand immer mehr Schaden als beim Eintritt.
»Was meinen Sie?«, fragte einer der Detectives von der Central Division.
»Wie es aussieht, ist er reingekommen und hat sofort das Feuer eröffnet. Zuerst hat er die beiden hier erschossen und dann die zweite Frau, als sie zur Tür gerannt ist. Danach ist er wieder auf den Flur raus und hat die SIS -Männer unter Beschuss genommen.«
»Ganz so sieht es aus, ja.«
»Ich sehe mich mal in den anderen Zimmern um.«
Bosch ging weiter den Flur hinunter und schaute durch offene Türen in leere Büros. Neben den Türen waren Namensschilder angebracht, und eines davon half seinem Gedächtnis auf die Sprünge. Royce’ Assistentin hatte Denise Graydon geheißen.
Der Gang endete an einem Aufenthaltsraum mit einer Kochnische mit Kühlschrank und Mikrowelle und einem großen Esstisch. Und einer zehn Zentimeter aufstehenden Tür.
Bosch drückte sie mit dem Ellbogen ganz auf und trat in einen von Mülltonnen gesäumten Hinterhof hinaus. Ein Stück die Straße hinunter war ein Parkplatz zu sehen. Bosch nahm an, dass Jessup dort den Wagen abgestellt hatte, aus dem er die Pistole geholt hatte.
Bosch ging wieder nach drinnen, und diesmal sah er sich in den einzelnen Büros genauer um. Er wusste, er bewegte sich in einer Grauzone. Auch wenn die Anwälte tot waren, handelte es sich nach wie vor um eine Anwaltskanzlei, und die anwaltliche Schweigepflicht und das Recht ihrer Mandanten auf die Wahrung ihrer Privatsphäre hatten weiterhin Gültigkeit. Deshalb fasste Bosch nichts an und öffnete keine Schublade und keine Akte. Er ließ den Blick lediglich über die Oberflächen der Dinge streifen und betrachtete oder las nur, was offen dalag.
Als er in Revelles Büro war, kam McPherson zu ihm.
»Was machst du da?«
»Ich schaue mich nur um.«
»Wir könnten Ärger bekommen, wenn wir die Büros betreten. Als Staatsanwältin darf ich kein …«
»Dann warte draußen. Wie gesagt, ich schaue mich bloß um. Ich vergewissere mich, dass die Räumlichkeiten gesichert sind.«
»Na schön. Ich warte vorne am Eingang. Dort wimmelt es bereits von Fernsehteams. Der reinste Medienzirkus.«
Bosch beugte sich über Revelles Schreibtisch. Er blickte nicht auf. »Schön für sie.«
In dem Moment, in dem McPherson das Büro verließ, las Bosch etwas auf einem Notizblock, der neben dem Telefon auf einem Aktenstapel lag.
»Maggie? Komm noch mal schnell her.«
Sie kehrte um.
»Sieh dir das mal an.«
McPherson kam hinter den Schreibtisch und beugte sich über den Block. Die oberste Seite war voll mit Notizen, Telefonnummern und Namen. Einige waren eingekreist, andere durchgestrichen. Allem Anschein nach hatte sich Revelle beim Telefonieren auf dem Block Notizen gemacht.
»Ja, was?«, fragte McPherson.
Ohne den Block zu berühren, deutete Bosch auf einen Vermerk in der rechten unteren Ecke. Dort stand
Checkers –
804
.
Das genügte.
»Scheiße!«, entfuhr es McPherson. »Aber Sarah hat doch im Hotel gar nicht unter ihrem Namen eingecheckt. Wie hat Revelle das rausgefunden?«
»Wahrscheinlich ist sie uns nach einer Gerichtsverhandlung ins Hotel gefolgt und hat jemanden geschmiert, damit er ihr die Zimmernummer sagt. Und jetzt müssen wir davon ausgehen, dass auch Jessup sie kennt.«
Bosch holte sein Handy heraus und rief per Schnellwahl Mickey Haller an.
»Bosch hier. Ist Sarah noch bei dir?«
»Ja, wir sind noch im Gericht und warten auf die Richterin.«
»Hör zu, mach ihr nicht unnötig Angst, aber sie darf auf keinen Fall ins Hotel zurück.«
»Okay. Und wieso nicht?«
»Weil nicht auszuschließen ist, dass Jessup ihre Zimmernummer kennt. Das heißt, wir müssen mit allem
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