Harry Dresden 08 - Schuldig
beginnen.“
„Nur noch eine Sekunde“, flüsterte ich. Dann öffnete ich durch Konzentration und Willensanstrengung meinen Magierblick, und für einen Augenblick spürte ich einen imaginären Druck auf meiner Stirn lasten.
Der Blick ist etwas, mit dem jeder, der eine magische Gabe besitzt, auf die Welt kommt. Es ist ein zusätzlicher Sinn, doch fast jeder erlebt ihn als eine Art verstärkte Sicht. Er zeigt die wahre Natur aller Dinge, ihren wahren, emotionalen Kern, das, was sie wirklich sind. Der Blick legt auch die Anwesenheit magischer Energien offen, die durch fast alles auf diesem Planeten pulsieren. Man sieht die Bahn dieser Energieflüsse, die durch unsere Welt fließen und wirbeln. Der Blick war besonders praktisch, um magische Konstrukte aufzuspüren – für all die Jungspunde da draußen: das sind Zaubersprüche – und um Illusionen und Zauber, die verschleierten, was wirklich war, zu durchdringen.
Ich nutzte meinen Magierblick, und er zeigte mir den Raum so, wie ihn meine stofflichen Augen nicht wahrnehmen konnten. Er zeigte mir etwas, das mich meine Fäuste ballen ließ, auch wenn ich in meinem Leben bisher schon so manche üblen Dinge gesehen hatte. Ich musste darum kämpfen, meinen Magen unter Kontrolle zu halten.
Der Ort des Angriffes, das Blut, die Brutalität und die zugefügten Schmerzen waren nicht nur ein Ergebnis des Wunsches, zu verletzen und grausam zu sein.
Es war ein bewusstes, schadenfrohes Kunstwerk aus Leid.
Ich konnte Muster in den Blutflecken erkennen, die mir das vor Grauen verzerrte Gesicht des alten Mannes zeigten, der von Vorschlaghammerfäusten zu einer kaum mehr erkennbaren Masse aus Fleisch geprügelt wurde. Jeder Blutfleck war ein Porträt, gemalt in Farben aus Entsetzen und Leid. Als ich mir das verschmierte Blut am Waschbeckenrand genauer ansah, hörte ich eine Reihe erstickter Laute, die einmal der verzweifelte Versuch gewesen waren, nach Hilfe zu rufen, und dann wurde der alte Mann herumgewirbelt, um eine weitere Serie von Kunstwerken aus Schmerz zu erschaffen.
Danach, für den Bruchteil eines Herzschlages, sah ich einen Schatten an der Wand – nur ein kurzer Blick aus dem Augenwinkel, eine Gestalt, ein Schemen, der nur die Umrisse seiner selbst an der Mauer hinterlassen hatte, als er die verzweifelten Energien des Leides des alten Mannes in sich aufgesaugt hatte.
Mit aller Mühe beendete ich den Magierblick und taumelte zurück. Das war der Nachteil an dieser übersinnlichen Sicht. Sie konnte viele Dinge offenbaren, aber alles, was man sah, blieb für immer und ewig haften. Sie schrieb alles, was man sah, in unauslöschlicher Tinte in der eigenen Erinnerung fest, und eben diese Erinnerungen waren immer da, frisch und schneidend scharf, wenn sie in einem hoch kochten. Egal, wie viel Zeit verging, sie verblassten nie, waren nie einfacher zu ertragen. Das kleine, unheimliche Stillleben, das jemand in Schwingungen negativer Energie auf die Fliesen der Toilette gemalt hatte, würde mir noch zahlreiche schlaflose Nächte bereiten.
Es machte ganz den Anschein, als hätte ich die schwarze Magie ausfindig gemacht, vor der mich der Torwächter hatte warnen wollen. Gut, dass ich diesen verdammt gefährlichen Spruch mit Kleinchicago nicht ausprobiert hatte.
Ich wich ein paar Schritte zurück und schüttelte die Farbfetzen und Lichtfunken ab, die auch nachdem ich den Magierblick beendet hatte noch immer als Nachbilder durch mein Blickfeld geisterten. Rawlins stützte meinen Ellbogen mit einer Hand.
„Sind Sie in Ordnung, Mann?“, brummte er einen Augenblick später sehr leise.
„Ja“, stotterte ich. „Ja. Danke.“
Er ließ seinen Blick von mir zu der geschlossenen Tür und wieder zu mir schweifen. „Was haben Sie da drinnen gesehen?“
„Ich bin noch nicht sicher“, gab ich zu. Meine Stimme bebte immer noch ganz schön. „Etwas Böses.“
Fast unhörbar flüsterte er: „Das war nicht nur ein einfacher Schläger, nicht wahr?“
Mein Magen verkrampfte sich wieder. Vor meinem inneren Auge sah ich die Reflexion eines bösartigen Grinsens, das sich in den vor Entsetzen aufgerissenen Augen des alten Mannes spiegelte. Dieses Bild in meiner Erinnerung war glasklar. „Vielleicht nicht“, entgegnete ich. „Möglich, dass es sich um einen Menschen handelte. Einen verdammt kranken. Aber andererseits … vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht.“ Weitere Worte blubberten meine Kehle empor, um über meine Lippen zu rinnen, doch ich schloss den Mund so fest wie
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