Harry Dresden 09: Weiße Nächte
wegen ihres Todes Groll zu empfinden. Ich würde dieser Frau nicht gerecht werden, wenn mich ihr Tod jetzt nicht zusätzlich anstachelte, ihre Mörder aufzuhalten, bevor sie ihr Werk vollendeten.
Ich trat auf Elaine zu, die an der Schwelle stehengeblieben war und Annas Körper anstarrte, bis ich ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand. Nicht die geringste Gefühlsregung spiegelte sich auf ihren Zügen wider. Doch ihre Augen waren von Tränen gerötet, die Rinnsale über ihre Wangen und Nase bildeten. Manche Frauen waren schön, wenn sie weinten. Elaines Nase lief, sie sah ganz aufgequollen aus, und dunkle, müde Ringe bildeten sich unterhalb ihrer Augen.
Es sah nicht attraktiv aus. So sah Leid aus.
Sie sprach, und ihre Stimme war rau und bebte. „Ich hatte ihr versprochen, sie zu beschützen.“
„Manchmal versucht man das“, flüsterte ich. „Manchmal ist es das Einzige, was einem bleibt. Es zu versuchen. So läuft das Spiel.“
„Spiel“, sagte sie. In diesem Wort lag genug ätzende Säure, um Löcher in den Boden zu fressen. „Hast du das je durchgemacht? Dass jemand ums Leben kam, der dich um Hilfe gebeten hat?“
Ich nickte. „Mehrfach. Die erste war Kim Delaney. Ein Mädchen, das ich ausgebildet hatte, um ihr Talent unter Kontrolle zu bringen. Vielleicht etwas stärker als die Frauen im Ordo, aber nicht viel. Sie ist in eine ungemütliche Angelegenheit geschlittert. Kopfvor. Ich war der Meinung, ich hätte sie abgeschreckt, doch sie wollte nicht auf mich hören. Ich hätte es besser wissen sollen.“
„Was ist passiert?“
Ich neigte den Kopf in Richtung der Leiche hinter mir, ohne wirklich hinzusehen. „Etwas hat sie gefressen. Ich besuche ab und zu ihr Grab.“
„Weshalb?“
„Um ihr Blumen zu bringen und das Laub wegzukehren. Um mir den Einsatz vor Augen zu führen, um den ich spiele. Mir in Erinnerung zu rufen, dass niemand jede Partie gewinnt.“
„Danach“, fragte Elaine leise. Sie hatte den Blick keine Sekunde von der Leiche abgewandt. „Was hast du mit dem Ding gemacht, das sie getötet hat?“
Die Antwort war verdammt kompliziert und nicht gerade das, was Elaine gerade hören sollte. „Ich habe es umgelegt.“
Sie nickte erneut. „Wenn wir den Skavis schnappen, will ich es tun.“
Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter und sagte sehr sanft: „Du wirst dich dadurch nicht besser fühlen.“
Sie schüttelte den Kopf. „Deswegen will ich es auch nicht tun. Es war mein Job, und den muss ich zu Ende bringen. Das schulde ich ihr.“
Ich glaubte nicht, dass Elaine aus ihrer Sicht die Unwahrheit gesprochen hatte, aber ich hatte genau dasselbe ebenfalls schon durchstehen müssen, und es konnte einen verdammt schnell aus dem Gleichgewicht bringen. Aber es hatte auch nicht den geringsten Sinn, in diesem Augenblick vernünftig mit ihr zu sprechen. Die Vernunft hatte sich für den Moment verzogen.
„Du schnappst ihn dir“, sagte ich leise, „und ich helfe dir dabei.“
Sie stieß ein klägliches, krächzendes Schluchzen aus und drückte sich an meine Brust. Ich hielt sie, so warm und zerbrechlich, und fühlte die furchtbare Reue, Frustration und Trauer, die sie durchströmten. Ich presste sie an mich, umarmte sie stärker und spürte, wie ihr Körper in stillem Schluchzen erbebte. Mehr als alles andere wünschte ich mir in diesem Augenblick, ihre Seelenqualen verscheuchen zu können.
Doch das konnte ich nicht. Als Magier besaß man mehr Macht als die meisten anderen, doch im Herzen blieb man derselbe. Wir waren alle Menschen.
Angesichts des geifernden Maules des Schmerzes waren wir alle gleich nackt.
26. Kapitel
K aum eine Minute später spürte ich, wie Elaine darum rang, ihren Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. Die Methoden, die uns DuMorne gelehrt hatte, um unsere Gefühle in Zaum zu halten, waren alles andere als sanft gewesen, doch sie funktionierten. Eine weitere Minute verstrich, und Elaines Atem wurde gleichmäßig. In stillem Dank stützte sie ihre Stirn auf mein Schlüsselbein. Sie neigte kurz den Kopf in Annas Richtung, eine fast schon förmliche Respektsbekundung und ein endgültiger Abschied.
Als sie sich wieder umdrehte, wartete ich schon mit einem feuchten, kühlen Waschlappen auf sie. Ich flüsterte: „Halt still.“ Dann säuberte ich sanft ihr Gesicht. „Du musst das Klischee der hartgesottenen Profidetektivin aufrecht erhalten. So aufgequollen kann ich dich nicht in die Öffentlichkeit lassen. Die Leute würden uns nicht länger
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