Harry Dresden 09: Weiße Nächte
welcher Entfernung festhielten. Die Tatorte waren für einen späteren Vergleich bis in die kleinste Einzelheit festgehalten worden.
In Thomas’ Aufnahmen tauchten keine Plastikkärtchen auf.
Was bedeutete, er musste die Fotos gemacht haben, ehe die Polizei dort aufgekreuzt war.
Heilige Scheiße.
Was dachte sich Thomas bloß dabei, all diesen Krempel so offen herumliegen zu lassen? Jeder, der hier vorbeikam und auch nur den geringsten Vorbehalt gegen meinen Bruder hegte, würde sofort darauf schließen, er sei vor der Polizei an den Tatorten gewesen. Sei ein Mörder. Ich meine, ich war sein Bruder , und selbst ich war der Meinung, das Ganze mache einen leicht seltsamen Eindruck …
„Bei den Toren der Hölle“, seufzte ich an Mouse gewandt. „Kann dieser Tag noch schlimmer werden?“
Eine schwere, selbstbewusste Hand klopfte in stetigem Rhythmus an die Wohnungstür. „Sicherheitsdienst!“, rief eine Männerstimme. „In Begleitung der Polizei. Sir, öffnen Sie bitte!“
8. Kapitel
M ir blieben nur wenige Sekunden, um zu überlegen. Wenn der Sicherheitsdienst die Polizei gerufen hatte, ging die davon aus, dass ich ihnen Ärger bereiten könnte, und wenn ich irgendwie Verdacht erregte, würden sich die Polizisten aus reiner Routine hier umsehen. Dann aber würden sie entdecken, was sich so alles in der Einsatzzentrale meines Bruders befand, und das würde uns beiden größere Probleme einbrocken, als ich je würde auslöffeln können.
Ich brauchte eine Ausflucht. Eine verdammt gute, glaubwürdige Ausflucht. Ich schloss die Türen zu Thomas’ Einsatzzentrale und dem Schlafzimmer, starrte Löcher in das makellose, stilvolle, indirekt beleuchtete Wohnzimmer und kramte verzweifelt in meinen Gedanken nach einer Lösung. Ich durchlöcherte Dorothy, den Blechmann, die Vogelscheuche und den Feigen Löwen auf der Suche nach Inspiration mit meinem Blick. Nichts. Der Piratenkönig, der sein weißes Hemd männlich bis zum Bauchnabel aufgeknöpft trug, war ebenso wenig hilfreich.
Doch dann durchfuhr es mich. Thomas hatte die Lügenfassade längst hochgezogen. Er hatte sie bereits benutzt, und sie war genau sein Stil, was Tarnung anbelangte. Ich musste einfach die entsprechende Rolle spielen.
„Ich kann nicht glauben, dass ich das wirklich tun werde“, knurrte ich Mouse an.
Dann legte ich Mantel und Stab beiseite, atmete tief ein, tänzelte zur Tür, öffnete diese und fragte indigniert: „Er hat Sie geschickt, nicht wahr – und versuchen Sie erst gar nicht, mich anzulügen!“
Eine Streifenpolizistin – mein Gott, sah die jung aus – musterte mich mit einem höflich-gelangweilten Gesichtsausdruck. „Sir?“
„Thomas!“, schnaubte ich, wobei ich den Namen wie die Frau vom Anrufbeantworter aussprach. „Er ist nicht Manns genug, mir selbst gegenüberzutreten, nicht wahr? Deshalb hat er seine Grobiane geschickt, um ihm das abzunehmen!“
Die Polizistin atmete gequält aus. „Bitte lassen Sie uns doch alle Ruhe bewahren.“ Sie wandte sich an den Mann von der Gebäudesicherheit, einen zappeligen Typen Ende Vierzig mit voranschreitender Glatze. „Laut der Gebäudesicherheit sind Sie kein registrierter Bewohner, doch Sie haben sich mit einem Schlüssel Zugang verschafft. Es ist Standardvorgehensweise, in solchen Fällen ein paar Fragen zu stellen.“
„Fragen?“, sagte ich. Ich verkniff es mir, mit dem Arm das Kännchen zu machen. Es fiel mir alles andere als leicht. Aber damit hätte ich möglicherweise zu dick aufgetragen. Also begnügte ich mich mit meiner besten Murphy-Imitation. „Warum fangen wir nicht mit der Frage an, warum er mich nicht angerufen hat? Hmm? Nachdem er mir schon den Ersatzschlüssel gegeben hat? Fragen Sie ihn doch, warum er nie gekommen ist, um unser Baby zu besuchen!“ Ich wies mit einem anklagenden Finger auf Mouse. „Fragen Sie ihn doch, welche Ausrede er diesmal hat!“
Die Polizistin sah aus, als hätte sie Kopfschmerzen. Sie zwinkerte mir einmal zu, hob ihre Hand vor den Mund, hüstelte, trat zur Seite und wies auf den Sicherheitsheini.
Der blinzelte einige Male. „Sir“, murmelte er. „Äh, es ist nur so, dass Mister Raith niemanden beim Sicherheitsdienst hat registrieren lassen, dem er Zutritt zu seiner Wohnung gestattet.“
„Da sei auch Gott vor!“, sagte ich. „Ich habe ihm Jahre geopfert, Jahre, und ich werde nicht zulassen, dass er mich wegwirft wie ein Paar Schuhe, das aus der Mode gekommen ist!“ Ich schüttelte den Kopf und wandte mich mit
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