Harry Dresden 09: Weiße Nächte
einer Windschutzscheibe. Einmal ganz abgesehen von der Möglichkeit, dass hier Schutzzeichen vorhanden sein konnten, die mein spirituelles Ich einfach desintegrieren und mir ganz schön scheußlichen psychischen Schaden zufügen würden. Möglich, dass ich sabbernd auf dem Boden meines Labors enden würde, simsalabim, vom Profimagier in ein arbeitsloses Gemüse verwandelt.
Scheiß drauf. Man ergriff keinen Beruf wie meinen, wenn man beim ersten Anzeichen von Gefahr kniff.
Fest entschlossen zwang ich meine Geistergestalt weiterzuschweben, Graumantel hinterher.
15. Kapitel
K eine Schwelle – das war gut. Keine Schutzzeichen, das war sogar noch besser. Graumantel hatte kein Wohngebiet betreten – er war in die Unterstadt gegangen.
Chicago war eine alte Stadt – zumindest nach amerikanischen Maßstäben. Es hatte bereits seit dem nordamerikanischen Siebenjährigen Krieg, also lange vor der Entstehung der Vereinigten Staaten, in der einen oder anderen Form existiert. Wenn man sich einmal vor Augen führte, dass Chicago rein geographisch gesprochen im Wesentlichen ein riesiger Sumpf war, war es wenig überraschend, dass die Gebäude im Verlauf der Jahre langsam im Boden versanken. Dasselbe war auch mit den alten Holzstraßen und denen, die man Schicht über Schicht darüber erbaut hatte, geschehen.
Wo der Boden kein zähflüssiger Schlamm war, handelte es sich um soliden Fels. Tunnel und Höhlensysteme durchzogen die Gegend wie einen Schweizer Käse. Das Manhattan-Projekt hatte eine Zeit lang in diesen Tunneln Unterschlupf gefunden, ehe man es an den Arsch der Welt verlegt hatte. Irgendjemand in der Regierung hatte unübliche Weitsicht unter Beweis gestellt, indem er die Meinung vertrat, es sei eine wirklich saublöde Idee, die verdammte Atombombe in der zweitgrößten Stadt der Staaten zu entwickeln.
All das hatte ein gigantisches Labyrinth von Durchgängen, Höhlen, halb eingestürzten Gebäuden und zerbröselnden Tunneln hinterlassen, von denen man annehmen musste, sie könnten einem jeden Augenblick auf den Schädel donnern. Es war finster, also verirrten sich kaum Menschen hierher. Das wiederum hatte zum Ergebnis, dass die Unterstadt Zufluchtsort, Versteck und Heimat für alle möglichen Garstigkeiten geworden war – Dinge, die noch nie zuvor ein Sterblicher, noch nicht einmal ein Magier, zu Gesicht bekommen hatte. Einige dieser Dinge hatten ihrerseits die Tunnel und Höhlen ausgeweitet und sich verbissen verteidigte Reviere geschaffen, die niemals das Angesicht der Sonne sahen oder das Flüstern des Windes hörten. Dort unten war es dunkel, eng, muffig und verdammt gruselig. Die Tatsache, dass dort Viecher lauerten, die Menschen nicht besonders gerne mochten, machte im Verbund mit der Gefahr freigesetzter Radioaktivität die Unterstadt nicht gerade zur ersten Adresse für die Tourismu sindustrie.
Graumantel ging durch einen Spalt in der Rückwand des Gebäudes schnurstracks in die Tunnel der Unterstadt. Er wurde dabei noch durchsichtiger. Ich musste immer näher an ihn heran, und das kostete mich eine immer größere Willensanstrengung. Kleinchicago besaß kein detailliertes Modell der Unterstadt, einerseits, weil es von diesem Ort kein Kartenmaterial gab, andererseits, weil es wohl als Selbstmordversuch zu werten gewesen wäre, hätte ich versucht, von dort unten Proben zu bekommen. Vor allem jedoch war mir nie in den Sinn gekommen, so ein Modell anzulegen.
Durch den durchscheinenden Schleier aus Erde, Fels und Ziegeln konnte ich noch immer mein wahres Ich über der Stadt stehen sehen. Ich hatte die Hand noch ausgestreckt, doch meine Finger zitterten, und auf meiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. Komisch, dass ich von hier aus die Anstrengung nicht spürte, der mein Körper unterworfen war. Das hatte ich nicht erwartet. Es bestand die Möglichkeit, dass ich einfach weitermachte, ohne mir der Kosten bewusst zu sein. Wahrscheinlich konnte es mich sogar das Leben kosten, was meinen Geist …
Keine Ahnung. Vielleicht kippte es mich einfach nur endgültig aus den Latschen. Vielleicht starb nur mein Körper, und ich wäre für immer hier gestrandet. Vielleicht band es mein Bewusstsein an diesen Ort wie eine Art äußerst armseligen Geist.
„Reiß dich zusammen, Dresden“, sagte ich mir. Ich hatte mir diese Karriere nicht ausgesucht, um beim ersten Anflug von Müdigkeit wegzurennen.
Ich ging weiter – doch ich sah so oft es ging zu mir hoch.
Nach kurzer Zeit hatte Graumantel sein Ziel
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