Harry Dresden 09: Weiße Nächte
erreicht. Er fand einen engen Riss in einer Felswand, schlüpfte hinein, stützte Hände und Füße gegen die Seiten und begann hinaufzuklettern. Er war verflixt schnell. Drei Meter über ihm öffnete sich der Spalt zu einem Raum mit drei Ziegelwänden und einer Mauer aus Lehm – ein partiell eingestürzter Keller, nahm ich einmal an. Nur wenige Annehmlichkeiten waren zu sehen. Eine Luftmatratze und ein Schlafsack, eine Laterne, ein Campinggrill, ein schwerer Sack voller Kohle und einige Pappschachteln mit Vorräten.
Graumantel schob ein schweres Eisengitter über das Loch, durch das er gerade empor geklettert war, und beschwerte es noch zusätzlich mit mehreren großen Betonziegeln. Dann öffnete er eine Schachtel, packte einen dieser Nahrungsersatzriegel aus, mit denen sich Leute folterten, wenn sie glaubten, übergewichtig zu sein, aß ihn und leerte eine Plastikflasche Wasser. Das war ja mal eine wichtige Information. Ach wie gut, dass ich meinen metaphysischen Hals dafür riskierte, derart weltbewegende Hinweise zu sammeln.
Ich blickte über meine Schulter. Mein Gesicht war ganz grau und triefte vor Schweiß.
Ich erwartete, dass Graumantel sich aufs Ohr hauen würde, doch stattdessen dämpfte er die Laterne, öffnete eine zweite Schachtel und kramte eine tellergroße Tafel hervor, die er auf den Boden legte. Es handelte sich um einfaches Holz, in das ein Kreis aus rötlichem Metall eingelassen war, höchstwahrscheinlich Kupfer.
Graumantel drückte einen Fingernagel gegen sein Zahnfleisch und zog die Fingerspitze zurück, auf der Blut glänzte, das viel körperlicher und reeller erschien als sein Spender. Er berührte mit dem blutigen Finger den Kreis und begann, monoton zu singen, doch ich verstand nicht, was er von sich gab.
Ein schwacher Nebel wirbelte aus dem Kupferkreis hervor, und durch den Spruch konnte ich sehen, wie die rohen magischen Kräfte sich zu einem Muster verwoben, einem Strudel, der unter der Tafel verschwand.
Einen Augenblick später verdichtete sich der Nebel zu einer winzigen Gestalt, einem vage menschenähnlichen Schemen, der einen schweren Umhang trug, dessen Kapuze das Gesicht komplett verbarg.
Nur, dass ich ihn schon einmal gesehen hatte – oder zumindest jemanden, der sich genau so anzog.
Als ich Kutte das letzte Mal begegnet war, hatte ihn der Rückschlag eines unsagbar mächtigen Beschwörungszaubers, Dunkelheiligtum genannt, erwischt. Eigentlich konnte dieser Mann den Zauber unmöglich überlebt haben. Eher fror die Hölle zu, als das jemand das überstanden hatte. Das konnte einfach nicht dieselbe Person sein.
Oder?
Das musste jemand anderes sein. Schließlich lag bei Schwarzmagiern der Ringgeistlook voll im Trend. Es konnte genauso gut jemand völlig anderes sein, der nicht die geringste Verbindung zu Kutte oder dem hypothetischen Schwarzen Rat besaß.
Andererseits war es Kutte gewesen, dessen Taten mir überhaupt erst den Hinweis auf die mögliche Existenz des Schwarzen Rates geliefert hatten. War es möglich, dass er dem rätselhaften Zirkel angehörte, den Graumantel erwähnt hatte? Schließlich hatte ich Kutte einmal ein Auto an den Kopf geworfen, und er hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Wenn er sich so gut schützen konnte, war es dann möglich, dass er die unkontrollierten Energien des auseinanderfallenden Dunkelheiligtums überlebt hatte?
Noch schlimmer, was, wenn dem nicht so war? Wenn er nur ein Teil einer ganzen Horde von Typen war, die genauso gefährlich und durchgeknallt waren wie er?
Ich bekam noch mehr Angst.
„Mein Herr“, sagte Graumantel und neigte respektvoll seinen Kopf. So verharrte er dann auch.
Einen langen Augenblick herrschte Stille. Dann sagte Kutte: „Du hast versagt.“
„Ich hatte noch keinen Erfolg“, widersprach Graumantel höflich. „Noch ist der Vorhang nicht gefallen.“
„Was ist mit dem Narren, der dich begleitet?“
„Tappt noch immer im Dunkeln. Ich kann ihn für die Zukunft in der Hinterhand halten oder verschwinden lassen, was immer Ihr für richtig haltet.“ Graumantel atmete tief ein und sagte: „Er hat den Magier in die Angelegenheit hineingezogen. Zwischen den beiden herrscht eine Art Vendetta, wie es scheint.“
Die kleine Nebelgestalt flüsterte: „Dieser Tölpel! In Dresdens Tod liegt nicht genug Nutzen, um diese Operation in Gefahr zu bringen.“
„Er hat mich in dieser Angelegenheit nicht zu Rate gezogen, Herr“, versicherte Graumantel und neigte erneut sein Haupt. „Sonst hätte ich
Weitere Kostenlose Bücher