Harry Dresden 09: Weiße Nächte
sagte ich. „Wenn wir ihn gemeinsam jagen, dann ist es das. Ich muss es wissen.“
Ihre Stirn umwölkte sich, doch dann zuckte sie die Achseln. „Irgendetwas musste ich schließlich tun. Um mich herum kamen Menschen zu Schaden. Man hat sie missbraucht. Sie haben in Angst gelebt. Also habe ich dich plagiiert.“
„Du hast den Wächter angelogen, der dich überprüfen sollte.“
„Du sagst das, als hättest du den Wächtern immer die Wahrheit gesagt.“
„Elaine …“, begann ich.
Sie schüttelte den Kopf. „Harry, ich kenne dich. Ich traue dir. Aber ich traue dem Rat nicht, und ich glaube nicht, dass sich das je ändert. Außerdem hatte ich keinen Bock darauf, als fabrikneuer Schütze Arsch in den Militärdienst gepresst zu werden, um seinen Kampf gegen die Vampire auszufechten – und genau das wäre geschehen, hätte ich mir bei Ramirez’ Tests wirklich Mühe gegeben.“
Wir sahen einander eine Weile lang an, dann sagte ich: „Bitte? Ich werde mit dir gehen. Ich werde dich vor dem Rat unterstützen.“
Sie legte eine ihrer warmen, weichen Hände über meine und sagte bestimmt: „Nein. Ich werde nicht zulassen, dass diese Typen die Entscheidungen in meinem Leben treffen. Ich werde nicht gestatten, dass sie das Urteil fällen, ob ich weiterleben darf oder nicht – und falls ja, wie.“
Ich seufzte. „Du könntest so viel Gutes tun.“
„Ich dachte, das täte ich gerade“, konterte sie. „Ich helfe Menschen. Ich tue Gutes.“
Da hatte sie recht. „Die Wächter würden höchstwahrscheinlich ohnehin komplett austicken, wenn du jetzt zu ihnen kommst und ihnen eröffnest, dass du all die Zeit dein Talent vor ihnen versteckt hast.“
„Ja“, sagte sie. „Das würden sie.“
„Verdammt“, sagte ich. „Wir könnten deine Hilfe gebrauchen.“
„Das bezweifle ich nicht“, sagte sie. Ihr Blick verhärtete sich, und ihre Stimme wurde kalt. „Aber ich lasse nicht zu, dass man mich benutzt. Niemand darf das. Nie mehr.“
Ich blinzelte und drehte mich zu ihr um.
Ich drehte meine Hand unter ihrer, und wir legten unsere Finger mit der sorglosen Unbeschwertheit alter Gewohnheit ineinander. „Elaine. Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht unter Druck setzen. Mir war nicht klar …“
Sie zwinkerte mehrfach und wandte den Blick ab. „Nein, mir sollte es leid tun. Ich werde hier total neurotisch. Das will ich nicht.“ Sie blickte aus dem Fenster auf die Stadt. „Nachdem du DuMorne ermordet hattest, hatte ich ein Jahr lang einen Alptraum. Immer denselben, jede Nacht. Ich war sicher, dass er wahr war. Dass DuMorne lebte. Dass er hinter mir her war.“
„Das war er nicht“, beruhigte ich sie.
„Ich weiß“, sagte sie. „Ich sah ihn sterben, genau wie du. Aber ich hatte solche Angst …“ Sie schüttelte den Kopf. „Also bin ich davongelaufen. Zum Sommerhof. Ich bin davongerannt. Ich konnte mich dem nicht stellen.“
„Gehst du deshalb an die Öffentlichkeit?“, fragte ich. „Weil du dich deiner Vergangenheit stellen willst?“
„Ich muss“, sagte sie, und ihre Stimme wurde fester. „Ich habe ständig eine Scheißangst. Immer, und über die Jahre … ich habe ziemliche Probleme mit Menschenansammlungen. Mit engen Räumen. Mit Höhen. Mit freien Plätzen. Nachtangst. Panikattacken. Verfolgungswahn. Gott, manchmal glaube ich, es gibt nichts, wovor ich keine Phobie habe.“
Was mir Elaine beschrieb, war genau das, was ich bei jemandem erwartet hätte, in dessen Geist jemand von außen eingedrungen war. Magie konnte der Schlüssel zu fremden Gedanken sein. Aber wenn man begann, ein fremdes Oberstübchen nach eigenem Gutdünken umzudekorieren, kam man gar nicht umhin, Schaden an der Psyche anzurichten. Je nach verschiedenen Faktoren ist der, der so etwas durchgemacht hat, im besten Fall fahrig und nervös – im Schlimmsten völlig katatonisch oder komplett geistesgestört.
Außerdem wäre es ein Fehler gewesen, den natürlichen seelischen Schmerz kleinzureden. Elaine hatte im Verlauf eines Abends absolut alles, was sie liebte, verloren. Ihren Vertrauten. Ihren Adoptivvater. Ihr Zuhause.
Das bedeutete für eine Waise viel mehr als für die meisten anderen Leute. Ich wusste das nur zu gut. Wie mich hatte man Elaine in ihrer Kindheit von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht. Von einem staatlichen Waisenhaus ins nächste. Für sie war wie für mich ein aussichtsloser Traum wahr geworden, als man ihr ein echtes Heim, ein wahres Zuhause, eine Vaterfigur aus Fleisch und Blut
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