Harry Dresden 09: Weiße Nächte
Vision, die mir mein Magierblick einbrachte, verschleiert wurde. Dieser zeigte mir alle lebendige Magie, die die Welt durchströmte, alle Spuren von Magie, die noch in der Luft hingen, was Dutzende von Eindrücken beinhaltete, die in den letzten Tagen entstanden waren, und Hunderte von flüchtigen Abbildern besonders starker Gefühle, die zur Blütezeit dieses Ortes in die Landschaft gesickert waren. Ich sah, wo das Mädchen, das nun zitternd mit einer Kugel im Leib dalag, zum ersten Mal versucht hatte, Feuer herbeizurufen. Sie hatte eine leichte Rußspur am Hang hinterlassen. Ich sah, wo ein knorriger, alter Mann, der heillos dem Opium verfallen und hoffnungslos abgebrannt gewesen war, sich vor einem Jahrhundert erschossen hatte und wo sein Gespenst bei Nacht nach wie vor spukte und frische Spuren hinterließ.
Ich konnte auch die kleine, wirbelnde Wolke aus Dunkelheit erkennen, die die unmenschlichen Lebensenergien des angreifenden Ghuls ausmachte, die vom Adrenalin der Schlacht geradezu kochten.
Ich prägte mir den Standort des Ghuls ein, schloss meinen Magierblick und begann, mit gewaltigen Sätzen und wilde Haken schlagend wie von der Tarantel gestochen den Hang hinaufzurennen. Es war höllisch schwer, so ein Ziel zu treffen, selbst wenn es beständig näher kam. Trotz Luccios Dunstschleier hatte ich nicht die geringste Lust, mir einen Schuss einzufangen, wenn ich es irgendwie vermeiden konnte. Bergaufwärts zu hetzen war ganz schön anstrengend, da ich äußerst widerborstiges Gelände überwinden musste, doch die Hitze des Tages hatte noch nicht eingesetzt, und außerdem ging ich regelmäßig laufen – zugegebenermaßen, um im Fall der Fälle die Option zu haben, vor den bösen Buben davonzulaufen, und nicht auf sie zu zu rennen.
Weitere Schüsse hallten durch den Morgen, doch kein Treffer schien in meiner Nähe zu landen. Ich hielt die Stelle, wo der Ghul höchstwahrscheinlich aus seiner Deckung heraus ballerte, ständig fixiert. Durch den Dunstschleier konnte ich zwar nicht das Geringste ausmachen, doch ich würde ein prima Ziel abgeben, sobald ich den Dunstschleier hinter mir ließ oder sobald Luccio die Kraft verließ, den Zauber aufrechtzuerhalten. Ich musste näher ran. Ich hatte weder meinen Sprengstock noch meinen Stab bei mir, und ohne diese Werkzeuge, um meine Magie zu bündeln, waren Reichweite und Genauigkeit meiner Sprüche, die ich dem Ghul um die Ohren hauen konnte, drastisch eingeschränkt. Deshalb musste ich in seine unmittelbare Nähe gelangen, ehe ich loslegte. Ich konnte mich nicht gleichzeitig mit meinem Schild gegen Schüsse schützen und angreifen – doch der Ghul musste ausgeschalten werden. Ich hatte nur eine Chance, und wenn ich verfehlte, würde ich ein einfaches Ziel darstellen.
Ich rannte mit aufmerksam aufgerissenen Augen weiter und begann, in mir die Kräfte zu sammeln, die ich dem Ghul entgegenschleudern wollte.
Dann hob sich der Dunst von einem Augenblick auf den anderen, als ich gerade einen Satz über einen vertrockneten Busch vollführte.
Der Ghul hatte sich gute sieben Meter weiter hangaufwärts hinter einen Felsen gekauert. Sein Gesicht hatte sich nur schwach verzerrt, da er sich augenscheinlich alle Mühe gab, seine menschliche Gestalt aufrecht zu erhalten, während er eine menschliche Waffe bediente – eine verdammte Kalaschnikow. Dem Himmel sei Dank. Die Waffe war robust und idiotensicher, aber es handelte sich nicht gerade um ein Scharfschützengewehr. Wenn er mit einem etwas präziseren Schießeisen herumgefuchtelt hätte, hätte er wahrscheinlich weit größeren Schaden anrichten können.
Während der Ghul den Lauf seiner Waffe entlang spähte, rannte ich von der Seite auf ihn zu und war für ihn wahrscheinlich nicht mehr als eine flüchtige Bewegung in seinem Augenwinkel. Er brauchte eine Sekunde, um die Bedrohung zu erkennen und das Gewehr in meine Richtung herumzureißen.
Das erkaufte mir Zeit. Ich schleuderte meine Hand und meinen Willen in seine Richtung und knurrte: „Fuego!“
Flammen schossen aus meiner rechten Hand – nicht in einem konzentrierten Strahl eng gebündelter Energie, sondern in einer brüllenden Flut, die sich aus meiner Hand ergoss wie Wasser aus einem Rasensprenger. Viele Flammen, weit mehr, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte. Das Feuer traf den Ghul aber auch den Boden in rund sieben Metern Umkreis sowie den Hang weiter über ihm. Das Fauchen der Flammen machte einem markerschütternden Kreischen Platz, dann legte sich
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