Harry Dresden 11: Verrat: Die dunklen Fälle des Harry Dresden (German Edition)
kompetent war. Billy hatte das Schlimmste gesehen, hatte erlebt, wie der Tod zuschlug, widerlich, herzlos, wie er alles in seiner Reichweite vernichtete. Billy wusste im Grunde seines Herzens ohne den geringsten Zweifel, dass dieser grausame, herzlose Tod auch nach ihm die Hand ausstrecken konnte, dass er ihn ebenso holen konnte, wie er Kirby geholt hatte.
Doch er hatte sich entschieden: Er wollte sich behaupten.
Den jungen Werwolf Billy Borden gab es nicht mehr.
Will hatte sich entschieden, an meiner Seite in den Kampf zu ziehen.
Ich durfte ihn nicht länger wie ein Kind behandeln. Will kannte sich in der übernatürlichen Welt nicht aus, wusste nur um ein paar ziemlich geringfügige Bedrohungen, die um den Campus der Universität von Chicago herumlungerten. Bei ihm und den anderen Werwölfen handelte es sich um junge Leute, die vor etwa zehn Jahren einen echt tollen Trick gelernt hatten, mehr hatten sie nicht von mir erfahren. Die paranormale Gesellschaft als solche achtete schon sehr darauf, was sie Fremden mitteilte. Will hatte, wenn überhaupt, lediglich einen sehr vagen Begriff vom Ausmaß übernatürlicher Angelegenheiten im Allgemeinen und tappte völlig im Dunkeln, was die Gefährlichkeit und Komplexität der Sache betraf, in die ich im Moment verwickelt war.
Aber Will hatte sich entschieden. Ich durfte ihn nicht länger im Dunkeln tappen lassen und mir dabei noch einreden, das geschähe zu seinem Schutz.
Ich wies mit dem Kinn auf ein paar Stühle, die neben uns an der Wand standen. „Setzen wir uns. Das Thema ist recht umfangreich, aber ich habe nicht viel Zeit. Die Details erzähle ich dir später, jetzt kommen erst einmal die wichtigsten Eckpunkte.“
***
Als ich Will eine erste Übersicht über die übersinnliche Welt hatte zukommen lassen, war ich einem konkreten Plan noch kein Stück näher. Offenbar stimmt die These, dass manche Antworten sich Zeit ließen und erst einmal vor sich hin köcheln mussten, ehe sie sich einem offenbarten. In meinem Fall, fand ich, konnten sie das genauso gut tun, während ich unterwegs war. Ich stieg also in den geliehenen Rolls und steuerte den nächsten Ort an, den ich eigentlich schon viel früher hätte aufsuchen müssen.
Murphy hatte früher einmal ein eigenes Büro im Hauptquartier der Abteilung für Spezialermittlungen der Chicagoer Polizei gehabt. Das war, bevor sie ihre professionellen Pflichten als Chefin eben dieser Abteilung über Gebühr ausgereizt hatte, als sie mich bei einem grandiosen Durcheinander schützte, das in epischen Ausmaßen in die Hose ging. Eigentlich hätte sie ihren Job danach an den Nagel hängen müssen, aber da Murphy aus einem alten Bullenclan stammt – ihr Großvater war schon Polizist gewesen –, hatte sie genügend Unterstützer zusammentrommeln können und es geschafft, an ihrer Dienstmarke festzuhalten. Man hatte sie allerdings zum Detective Sergeant degradiert und die bereits geleisteten Dienstjahre gestrichen, wodurch ihre Karriere nachdrücklich in eine Sackgasse geraten war.
Nun saß John Stallings in ihrem alten Büro, und Murphy besaß bloß noch einen Schreibtisch im Großraumbüro, das sich der Rest der Einheit teilte. Der Schreibtisch war noch nicht mal neu, eins seiner Beine ruhte auf einem Stapel Meldeformulare in dreifacher Ausfertigung. Nichts Außergewöhnliches in diesem Büro, gehörte die Sonderermittlungseinheit doch karrieretechnisch zum Unattraktivsten, was der Polizeidienst zu bieten hatte und war Bullen vorbehalten, die es sich irgendwie mit ihren Vorgesetzten verscherzt oder aber im halsabschneiderischen Dschungel der Politik unserer Stadt einen falschen Schritt getan hatten. Also waren im Büro der Abteilung alle Schreibtische alt und wacklig, Wände und Fußböden abgenutzt. Noch dazu hockten hier doppelt so viele Bullen auf einem Haufen wie ursprünglich vorgesehen.
Es war schon spät, das Büro von daher ruhig und zum großen Teil leer. Die Nachtschicht war wahrscheinlich gerade zu einem Einsatz unterwegs, von den drei im Zimmer verbliebenen Polizisten kannte ich nur Murphys Partner, einen stämmigen, leicht übergewichtigen Mann Ende fünfzig, dessen Haare langsam aber sicher immer silberner wurden, was im krassen Gegensatz zum satten Kaffeeton seiner Haut stand.
„Rawlins!“, begrüßte ich ihn.
Er grunzte und nickte mir höflich zu. „Guten Abend.“
„Was tun Sie so spät noch hier?“
„Liefere meiner Frau die Munition, falls sie mich vor Gericht schleppen und sich von mir
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