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Harte Schule

Harte Schule

Titel: Harte Schule Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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haargenau, was sie bei welcher Gelegenheit sagen müssen. Schließlich trainieren wir sie darauf, die Antwort zu geben, die wir hören wollen.«
    »Aber wie kommt die Leiche unter Marquardts Schlehenbüsche, wenn er mit Selims Tod nichts zu tun hatte?«
    »Das weiß ich auch nicht. Ich warne nur vor schnellen Urteilen. Dem Minischter kommst du nicht bei, wenn du aus Marquardt eine Bestie machst. Das nützt den Herren eher. Finde lieber den Mörder und mach das ordentlich und in Schönschrift.«

21
     
    Otter wohnte auf der anderen Seite des Neckars in der Zuckerbergstraße auf dem Zuckerberg über Weinhängen, dort wo, wenn Namen etwas bedeuten, das wässrige Gesöff namens Cannstatter Zuckerle herkommt. Die knorrigen Rebstöcke reichten hangabwärts bis zum schwarzen Fluss, begleitet von Lichtkegeln fahrender Autos. Mein Atem blieb in den Maschen des Zauns überm Hang als Reif hängen. Auf der anderen Straßenseite hielten die einzeln stehenden Häuser Nachtruhe.
    Ich hatte Hemmungen zu klingeln, nein, nicht Hemmungen, sondern Angst. Das spitzgiebelige Haus lag still inmitten des Gartens an der Straßenecke. Seitlich unterm Dach brannte hinter runtergelassenen Rollläden ein Licht. Ich würde die Otters zwar nicht wecken, aber wohl aus den Betten klingeln. Aber das hatte mir sonst nie Unbehagen bereitet, auch nicht die Aussicht, einem Mörder in Bademantel und gestreiftem Pyjama gegenüberzustehen. Aber musste das wirklich diese Nacht noch sein? Würde einer wie Otter untertauchen, wenn beispielsweise Zeller ihn warnte, dass ich dicht an ihm dran war? Würde Zeller ihn überhaupt warnen? Oder hatte er es schon getan? Oder ein anderer?
    Ich stellte mir die erschrockenen Augen seiner Frau vor. Ich würde ihn verklausuliert bedrohen müssen, damit er mir nicht die Tür vor der Nase zuschlug. Ich würde ihm eine Kinderleiche vorlegen, damit er seine Frau hoch ins Bett schickte, wo sie an den Nägeln kaute. Ich würde ihn vor die Wahl stellen, mir den Mord an Marquardt zu gestehen oder übermorgen in der Zeitung von seinem Besuch im Schwulenclub zu lesen. Er würde schwitzen im Durchzug bei offener Haustür. Wenn ich zum Auto zurückging, würde er wissen, dass ihn morgen die Polizei holte. Vielleicht rief er Bollach an, um dessen Schutz zu erflehen, und Bollach riet ihm, an Frau und Kind zu denken und als Ehrenmann einen Schlussstrich zu ziehen. Oder hatte er es ihm schon geraten?
    Ich überstieg das Gartentörchen. Und schnüffelte ums Haus. Unter dem erleuchteten Fenster führte eine Treppe zur Waschküchentür hinab. Meine Alarmglocken schrillten. Es roch eklig. Gas!
    Ich sprang zurück in den Garten. Klingeln konnte ich nicht, auch nicht anrufen, denn wenn dabei ein elektrischer Funke sprang, konnte alles in die Luft fliegen. Auch durften die Otters nirgendwo sonst Licht machen. Ich nahm eine Handvoll Erde aus dem Rosenbeet und schleuderte den Dreck gegen den erleuchteten Rollladen unterm Dach. Lieber wäre ich weggerannt. Endlich ratterte der Rollladen, von schwacher Hand gezogen, Latte um Latte nach oben. Ich gestikulierte, winkte, hüpfte. Eine Frauengestalt öffnete zögerlich das Fenster. Neben ihr erschien Otter, dessen albinoblondes Haarhütchen im Gegenlicht der Deckenbeleuchtung stiezelte.
    »Gas!«, schrie ich. »Im Keller ist Gas. Fassen Sie keinen Lichtschalter an. Holen Sie das Kind und kommen Sie raus, schnell!«
    Die Frau verschwand sofort, aber Otter blieb am Fenster, die Hände auf den Sims gestemmt, als ob es gelte, einen nächtlichen Ruhestörer von oben dingfest zu machen. Ich hatte keine Nerven, ihn überzeugen zu wollen.
    Die Wahrheit war, ich rannte weg, überwältigt von Panik. Ich überwand einen Zaun mit Rosen und kam erst fünf Häuser weiter wieder zur Besinnung. Die Sorge um Brontë trieb mich zurück. Eine Frau mit einem Kind, das in Decken eingeschlagen war, wehte barfuß aus dem Gartentörchen. Ich fing sie ab. »Wo ist Ihr Mann?«
    Sie drehte sich um. »Er wollte noch …«
    Ich riss sie mit mir hinter die geparkten Autos und zog sie neben Brontë zu Boden. Mein Auge nahm den Knall vorweg. Ich sah, wie das Haus über dem Weinhang zerplatzte. Brontë blies es die Scheiben raus. Glasbrösel regneten. Das Pfeifen im Ohr tauchte hernach alles in Stille. Das Kind auf Frau Otters Arm riss Augen und Mund auf. Leute erschienen, gestikulierten, irrten vor der hier und dort lodernden Ruine umher, redeten auf uns ein. Frau Otter war ganz Madonna auf blutigen Füßen. Ich legte ihr meine Jacke

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