Hartland
sich so zu drehen, daß er sie von hinten sehen und erkennen konnte, ob sie diese Nacht gebären würde oder noch nicht – auch ohne Lasso. Die vom grellen Licht geblendete, vom Aufheulen des Motors verängstigte Kuh drehte sich aber nicht herum, sie drängte sich an den Zaun. Mitch drosch auf die Hupe, einmal, mehrmals, er blendete auf, ließ den Motor noch wüster aufheulen, fuhr scharf an, als ob er die Kuh umfahren wollte, und brüllte sie durchs offene Seitenfenster an: «Dreh dich! Dreh dich, verflucht noch mal!» Und endlich drehte sie sich. Mitch beugte sich vor. «Nichts zu sehen, es hängt noch nichts raus.»
Auf einmal, von einem Moment zum andern, sprach er ruhig zu der Kuh, ganz sanft. «Gut siehst du aus, gut. Legst dich noch nicht hin, wie. Hast dich aber schon mal hingelegt, kurz, ich hab die Matschkruste an deiner Flanke gesehen. Du willst noch nicht gebären. Denkst drüber nach, ein Baby zu gebären, hm?» Dann, nüchtern, zu sich selbst: «Könnte sein, daß wir die Hand in sie stecken müssen heut nacht.»
Wir fuhren zurück. Der Weg rüttelte den Wagen durch, und Mitchs Waffen scheuerten wieder an mir. Ich hörte ihn murmeln am Steuer, es klang wie ein Singsang. «Wounded Knee. Wounded Knee.»
Später kamen ein paar Sioux ins «Wagon Wheel». Alle anderen waren gegangen, auch Pat. Außer der Wirtin und mir waren jetzt nur Indianer in der Bar. Ich verstand Mitchs Witze nicht mehr, er riß sie in der Siouxsprache, Worte flogen hin und her, und alle lachten, nur die Wirtin und ich nicht. Dann sagte Mitch, es sei nun Zeit zu gehen.
Ich fuhr ihm nach und fragte mich, ob es in seinem Leben eine Frau gab. Sein Trailer gab die Antwort, er war das Nachtasyl eines alleinstehenden Mannes. Der Trailer verriet mir auch, daß das nicht immer so gewesen war. Irgendwann einmal war er von einer liebenden Hand eingerichtet worden, mit Teppichen, mit Vorhängen, von Schlaufen gehalten, mit Möbeln und Bildern. Das war lange her. Die Teppiche waren verfilzt, die Vorhänge offenbar dauerhaft zugezogen, ihre Schlaufen hingen welk herab, die Bilder standen abgehängt in einer Ecke. Mitch bewohnte nur noch den vorderen Raum. Dort lief der Fernseher Tag und Nacht, egal, ob Mitch kurz hier war oder lange fort. Auf der zerwühlten Couch gegenüber dem Gerät schlief er oder lag wach.
Nur ein paar Cowboyszenen hingen noch an der Wand und das Foto eines Marine. Unter der Uniformmütze schaute ein glattes Jungengesicht hervor, der junge Rekrut war Mitch – der jetzt hier in seiner Trailerhöhle hauste. Er rief mich, um mir meinen Schlafplatz zu zeigen, ein bis auf die nackte Matratze abgezogenes Kingsize-Bett in einem Schlafraum in der Tiefe des Trailers.
Ich schlief unruhig, die Nacht war kalt. Mir fiel dieRettungshaut ein, in die ich zuletzt in Hartland gekrochen war. Ich ertastete das brieftaschengroße Päckchen, zog es auseinander und schob mich in den Sack. Nun fror ich nicht mehr, ich schwitzte. Ich kroch wieder heraus, stülpte die silbrige, nasse Innenseite nach außen und die signalrote, noch trockene Außenseite nach innen. Bald war auch sie so feucht, daß die obere und die untere Haut aneinanderklebten und ich dazwischen. Immer wieder wachte ich auf, fiel zurück in meinen dünnen Schlaf, wachte wieder auf, sah auf die Uhr, sah mich um. Das große, selten benutzte Bett, auf dem ich lag. Das Schränkchen, darauf allerlei Arznei, Kräutertropfen, Deos, Kondome. Etwas kratzte am Trailer, ein Tier da draußen, ein Stinktier vielleicht oder ein Gürteltier.
Ich streifte die klatschnasse, stinkende Rettungshaut ab, es war jetzt stickig im Trailer und an Schlaf nicht zu denken, wühlte im Rucksack, suchte das Buch und fand es nicht, suchte mich zu besinnen, wo ich es verloren haben könnte, suchte vergebens, nur die ersten Sätze fielen mir ein, ich wußte sie auswendig: «The evening before it happened, I went to Pine Ridge and heard these things.» – «Am Abend, bevor es geschah, ging ich nach Pine Ridge und hörte von alldem.
»
Pine Ridge – das war nicht weit von hier, ein Ort im Reservat der Oglala-Sioux. Mitchs Trailer, in dem ich schlaflos lag und versuchte, mich an die Erinnerung eines anderen zu erinnern, stand am Rande des Reservats. «Before it happened» – das war das Massaker vom Wounded Knee Creek, Hunderte Sioux, zusammengeschossen vom 7. Kavallerieregiment am 29. Dezember1890. Und der, der dabei gewesen war und sich erinnerte, war der Sioux-Schamane Black Elk.
1930, mitten in
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