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Hastings House

Hastings House

Titel: Hastings House Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heather Graham
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“Nein, oder beabsichtigen Sie, mir etwas anzutun?”
    “Einer Lady etwas antun?” Er klang entrüstet.
    “Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht beleidigen.”
    Der Mann schien etwa fünfunddreißig Jahre alt zu sein. Er war hager, und sein Gesicht war von frühen Falten gezeichnet, was ihm ein deutlich älteres Erscheinungsbild verlieh. Aber vermutlich war das eine Folge des Krieges. Sein Haar war sandfarben, er trug einen kleinen Schnauzer und einen ordentlich gestutzten Bart. Die Augen leuchteten in einem weichen Braunton und wurden durch seine schwungvollen Brauen zusätzlich betont.
    Er schien noch immer nicht glauben zu können, dass sie ihn wahrnahm. Schließlich stand er auf. “Verzeihen Sie”, sagte er nervös, während er sich sein Bein rieb. “Ich habe bei Shiloh ein paar Splitter abbekommen”, erklärte er. “Nehmen Sie doch bitte Platz.”
    Ihr wurde klar, dass er sich nicht wieder hinsetzen würde, solange sie stehen blieb. Also kauerte sie sich auf der äußersten Kante des Sessels nieder, woraufhin er es sich wieder auf dem Sofa bequem machte. Er sah sie weiterhin aufmerksam an.
    “In all den Jahren, in denen Kinder geboren wurden, aufwuchsen und von hier fortgingen … in all den Jahren hat mich nie jemand gesehen.”
    Leslie zögerte einen Moment, ehe sie etwas sagte. Mit der Zeit hatte sie sich mehr und mehr an ihre außergewöhnliche Gabe gewöhnt, und durch Nikki und Adam Harrison wusste sie, dass jede Erscheinung anders war und sich fast jede von ihnen den Lebenden gegenüber anders verhielt. Die meisten von ihnen wollten oder brauchten irgendetwas.
    “Ich sehe Sie”, sagte sie abermals. “Weshalb sind Sie hier?”
    “Ich kann die Musik nicht im Stich lassen”, erwiderte er.
    “Wie bitte?” Er konnte doch nicht von Joes CD-Sammlung reden.
    “Kurz vor dem Krieg wurde ein Marsch verlegt, den ich komponiert hatte. Und dann noch eine Etüde. Doch da war noch so viel mehr. Ich wusste nicht, ob ich je zurückkehren würde – kein Mann wusste das.” Er legte die Stirn in Falten. “Sie sind aus dem Süden”, stellte er plötzlich fest.
    “Ursprünglich ja. Aber ich lebe schon seit vielen Jahren in New York.” Sie sprach eigentlich nicht mit einem Südstaatenakzent, allenfalls mit einem ganz leichten. Woher wusste er also, dass sie aus dem Süden stammte?
    Er sah sie etwas argwöhnisch an.
    “Ich bin froh, sagen zu können, dass wir heute eine geeinte Nation sind”, erklärte sie. Wie sollte sie ihm erklären, wie viel sich seit den Tagen des Bürgerkriegs geändert hatte? Und wie sollte sie ihm offenbaren, dass selbst heute noch Wunden heilen mussten, die vom Bürgerkrieg geschlagen worden waren?
    “Sehr froh sogar”, beteuerte sie. “Als eine Nation sind wir stark.”
    “Ich versteckte meine Musik, doch als ich zurückkam … da wollte ich unbedingt, dass noch mehr davon verlegt wird. Allerdings war ich ständig krank … meine Nichte kümmerte sich um mich. Als ich starb, lernte sie einen netten jungen Kerl kennen. Er hatte bei Gettysburg ein Bein verloren, aber er war trotzdem ein ganzer Mann. Ich war froh, sie hier erleben zu können und zu sehen, wie ihre Kinder aufwuchsen.” Er hielt inne und sah wieder Leslie an. “Darf ich Ihnen von meiner Musik erzählen?”
    “Natürlich”, sagte sie.
    Joe legte den Artikel zur Seite und nahm sich vor, ihn später noch einmal gründlich zu lesen. Irgendetwas hatte er dabei übersehen, aber er war immer noch nicht dahintergekommen. Vielleicht stieß er ja mit genügend Abstand drauf.
    Bei der Durchsicht der eingegangenen E-Mails stieß er wie erwartet auf keine nützlichen neuen Hinweise. Er ging ins Badezimmer, das durch eine weitere Tür ins Schlafzimmer führte, duschte und rasierte sich, zog etwas Frisches an, dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück.
    Leslie bemerkte ihn zunächst nicht und saß im Sessel, wobei sie so interessiert in Richtung Sofa schaute, dass man hätte meinen können, sie würde sich mit jemandem angeregt unterhalten, der dort Platz genommen hatte.
    “Leslie?”
    “Oh!” Sie erschrak und drehte sich zu ihm um.
    “Alles in Ordnung?”
    “Natürlich.”
    Verwundert fragte er nach: “War … war jemand hier?”
    “Wie kommst du denn darauf? Ich würde doch niemanden in deine Wohnung lassen.”
    Er setzte sich ihr gegenüber auf das Sofa und fand seinen ersten Eindruck bestätigt, was ihre Sitzhaltung anging. Sie saß nicht entspannt in ihrem Sessel, sondern so nach vorn gebeugt, als hätte sie sich

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