Haus aus Erde
leicht auf die Unterlippe, dann öffnete sie den Mund. Ihre Lippen waren feucht.
Ihr Gesicht – Lider, Haare, Stirn, Ohren, Wangen, Kinn – bot ein Bild fast ungetrübten Friedens und Trostes. Als sie sich die Lippen leckte und atmete, sah Tike eine Spur, zwar nur eine winzige Spur, aber doch eine Spur von Schmerz, Qual und Elend. Ein Gefühl überkam ihn. Ein Gefühl, das ihn noch jedes Mal überkommen hatte, wenn er sie so sah. Es war ein Gefühl von Liebe, aber auch ein Gefühl von Kampf. Einer Liebe, die aus Kampf gemacht war, aus dem Kampf, den er führen würde, falls irgendein Mensch seine Lady kränkte oder verletzte oder auch nur gemeine oder schlimme Dinge über sie sagte. Und lange schien er von einer höheren Warte aus auf ihr gemeinsames Leben zu blicken, auf ihr Leben in einer Hütte auf einer Parzelle aus Schlammboden, und selbst die Parzelle, die Hütte und der Kuhstall, all das gehörte ihnen eigentlich nicht. Nein. Das alles gehörte einem Mann, der sein Land noch nie betreten hatte. Gehörte jemandem, der sich einen Dreck darum scherte. Gehörte jemandem, dem die Gefühle in ihrem Kuhstall gleichgültig waren. Gehörte jemandem, der die feurige Saat aus Worten, Tränen, Leidenschaften nicht kannte, aus Hoffnungen, die hier, auf diesem Flecken Erde, zerschellten. Gehörte jemandem, der nicht glaubte, dass solche Menschen denken konnten. Gehörte jemandem, der ihre Namen auf seiner Geldliste verzeichnet hatte, auf seiner Liste der Dummköpfe. Gehört jemandem, der nicht weiß, wie schnell wir uns zsammentun und wie schnell wir kämpfen können. Gehört einem Mann oder einer Frau, irgendwo, die nicht einmal wissen, dass wir hier unten am Leben sind. Gehört einer Krankheit, die das schlimmste Krebsgeschwür dieses Landes ist, und dieses Krebsgeschwür geht Hand in Hand mit dem Ku Klux Klan, den Jim-Crow-Gesetzen, der Rassentrennung und der Doktrin und dem Evangelium des Rassenhasses, und diese Krankheit ist das System der Sklaverei, die man Naturalpacht nennt.
All das ging Tike durch den Kopf, wenn auch nicht in genau diesen Worten. Nein. Nicht in genau diesen Worten. Es überkam ihn ein Gefühl, wie er es als Junge gehabt hatte, und seither fast jeden Tag. Es ist jenes Gefühl, das sich am schwersten in Worten ausdrücken lässt, weil es nicht nur aus Worten besteht. Es ist eine Vision. Es ist eine wissenschaftliche Tatsache, und alle Experten in Sachen Gehirn und Verstand wissen darum. Es ist keine Geisterseherei, auch keine Vision, die auf Aberglauben beruht, auf Hoodoo, Voodoo, Hexerei, Hokuspokus oder auf der Himmelswelt des Jenseits.
Es geschah jedes Mal, wenn Tikes Hoffnungen, Wünsche, Sehnsüchte und Sorgen, zufällig oder mit Absicht, zu einem einzigen Gedanken zusammenschossen, und gewöhnlich und ganz naturgemäß galt dieser eine Gedanke dem Menschen auf der Welt, den er am meisten liebte. Er hatte einem Dutzend Mädchen auf den Farmen und Ranchen ringsum gegolten. Er war ihm gekommen, wenn Freunde und Verwandte aus der Stadt oder von anderen Farmen ihre Kinder zu Besuch mitbrachten. Er hatte sich eingestellt, wenn Tike an seine Mutter, seinen Vater, seine Brüder und Schwestern dachte. Seit er mit Ella May ging, hatte er diesen Gedanken Hunderte Male gehabt, und seit er mit ihr verheiratet war, ihn nur noch deutlicher, nur noch wirklicher gespürt. Ihr Anblick, wenn sie auf der Farm ihrer Arbeit nachging, ließ ihn in seine Vision verfallen. Wenn sie fort war, in der Stadt oder auf einer der Nachbarfarmen, dachte er so deutlich an sie, dass alles in seiner Welt gleichzeitig auf ihn einstürmte. Tatsächlich sah er eine lebendige Verbindung zwischen allen Gedanken, die er je gedacht hatte, zwischen allem, was ihm je widerfahren war. Jede Zelle in seinem Hirn, jede Erinnerung war überdeutlich mit jeder anderen verbunden, und diese wieder mit einer anderen, und immer so weiter.
Grob gesagt, bestand das Gefühl darin, dass, wenn diese verschiedenen Erinnerungen, Gedanken, Ideen, Vorkommnisse der eine Tike Hamlin waren, tja, dann waren die Dinge um ihn herum – Haus, Kuhstall, der eiserne Wassertank, die Windmühle, das kleine Hühnerhaus, die wacklige alte Hütte, die ganze Farm, die ganze Ranch – ein Teil von ihm, so wie ein Ei vom Hof in seinen Mund hinein- und seinen Schlund hinabwanderte und ein Teil von ihm wurde.
Religiöse Menschen wie die Brush Arbor Shouters, die Holy Rollers in ihrem Heu, die Spiritualisten in ihrer Trance, die Christian Scientists auf ihrer Jagd
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