Haus der Erinnerungen
Er spielt immer noch, nicht wahr?« Jennifer senkte den Kopf, ohne zu antworten. Victor schob ihr leicht die Hand unter das Kinn und hob ihren Kopf, bis sie ihm wieder in die Augen sah. »Er spielt immer noch, nicht wahr?«
»Ja.«
Victor senkte den Arm und ging zur anderen Seite des Kamins hinüber. Den Ellbogen auf den Sims gestützt, sagte er: »Und es ist schlimmer geworden, stimmt's? - Oh, ich weiß.
Ich kann dir die peinliche Antwort ersparen. Harriet war mehrmals bei mir und hat es mir erzählt. Und jetzt kommen die Gläubiger schon ins Haus, wie ich höre.«
»Kannst du ihm nicht helfen, Victor?«
Wieder blickte Victor sie einen Moment schweigend an, und er mußte das gleiche sehen wie ich - die großen, weichen Rehaugen, die bebenden Lippen, die feingeschwungenen Augenbrauen, die klare Schönheit Jennifers. Ich spürte es, er liebte sie immer noch.
»Hast du mich deshalb hergebeten?«
»Nein!« Bestürzt trat sie einen Schritt näher zu ihm. »Nein, Victor, das darfst du nicht glauben. Ich hätte die Sache niemals angesprochen. Ich habe dich eingeladen, weil ich dich sehen wollte und weil ich fürchtete, du würdest nie wieder zurückkommen. Es ist soviel Zeit vergangen...« Sie vollendete ihren Gedanken nicht. »Du allein konntest mich in dieses Haus zurückholen, Jenny. Harriet hat es viele Male versucht. John hat mich eingeladen, selbst mein Vater hat seinem Herzen einen Stoß gegeben und mich gebeten, nach Hause zu kommen.
Aber ich habe immer nur auf ein Wort von dir gewartet, denn deinetwegen bin ich dem Haus ferngeblieben.«
Die Schwermut, die mir auf ihrer Fotografie aufgefallen war, verdunkelte jetzt flüchtig Jennifers Gesicht, ein Ausdruck offener Verletzlichkeit, der, das fühlte ich, Victor so stark ergriff wie mich. Ich spürte, daß er in diesem Moment gegen den Impuls kämpfte, Jennifer einfach in die Arme zu nehmen. »Ich helfe John, wenn du es wünschst.«
»Ach, Victor -«
»Aber nur um deinetwillen. John ist zu stolz, um mich um Hilfe zu bitten. Und ich bin auch gar nicht sicher, ob ich ihm helfen
würde, wenn er zu mir käme. Aber du, Jenny, du solltest längst in deinem eigenen Heim leben und daran denken, eine Familie zu gründen. Nur um deinetwillen werde ich meinem Bruder helfen.«
Jennifer schüttelte den Kopf. »Du darfst es nicht für mich tun, Victor. Du mußt es tun, weil du es willst. Weil er dein Bruder ist -«
Er lachte kurz auf. »Ja, das ist er. Und damit bist du meine Schwester, richtig? Oder genauer gesagt, meine Schwägerin. Aber das ist praktisch das gleiche«, schloß er bitter.
»Nein, das ist nicht das gleiche.«
Zu meiner Überraschung stürzte Victor plötzlich auf Jennifer zu und faßte sie bei den Armen. Er hielt sie so fest, als wollte er sie schütteln. Schwarzer Sturm verdunkelte sein Gesicht, und seine Augen blitzten vor Zorn, so daß Jennifer erschrocken vor ihm zurückwich.
»Was ist es dann?« sagte er heiser, seiner Stimme kaum mächtig. »Was sind wir, wenn nicht Schwester und Bruder?«
»Victor! Ich -«
»O Gott!« rief er und ließ sie so plötzlich los, wie er sie gepackt hatte. »Was ist nur über mich gekommen ? Die Frau meines eigenen Bruders! Bin ich denn wahnsinnig geworden
?«
»Du kannst es nicht ändern«, sagte sie hastig. Ihre Wangen waren blutrot. »So wenig wie ich.«
Victor starrte sie immer noch zornig an, aber ich wußte, daß sein Zorn nicht ihr galt, sondern sich selbst. Für sie empfand er nur tiefe Liebe und Zärtlichkeit.
»Was soll ich tun ?« sagte er schließlich leise und verzweifelt. »Ein Jahr lang habe ich mit diesem Augenblick gelebt. Ich habe gewußt, daß er eines Tages kommen würde, daß die Stunde kommen würde, in der wir uns endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würden. Und oft habe ich mich gefragt, ob ich es fertigbringen würde, standzuhalten und mein Geheimnis für mich zu behalten. Aber ich sehe jetzt, daß ich es nicht kann. Ich bin ja nur ein Mensch. Zwölf Monate haben meine Liebe zu dir nicht auslöschen können, Jennifer. Zwölf Monate harter Arbeit haben mein Verlangen nach dir nicht mindern können. Bin ich denn zu lebenslanger schrecklicher Strafe verurteilt für ein Verbrechen, das begangen zu haben ich mich nicht erinnern kann?«
»Wenn es so ist«, sagte sie ruhig, »dann ist mir das gleiche Urteil gesprochen worden.«
Victor stand so still, so reglos, daß ich mich schon fragte, ob die Zeit stehengeblieben sei. Aber dann sah ich, daß er atmete, und hörte das
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