Haus der Erinnerungen
geworden, meine Beine so zittrig, daß ich gefürchtet hatte, ich würde zusammenbrechen, noch ehe John und Harriet miteinander fertig waren. Nur mit Mühe schaffte ich es zu dem Stuhl am Eßtisch, ließ mich darauf niederfallen und hielt mir mit beiden Händen den Kopf. Einige Minuten später regte sich meine Großmutter in ihrem Sessel und öffnete die Augen. »Ach, du lieber Gott«, murmelte sie. »Bin ich schon wieder eingenickt! Ach, tun mir meine Gelenke weh. Das ist der Regen. Ich schaff's nie die Treppe hinauf.« Ächzend beugte sie sich im Sessel vor, ergriff ihren Stock und stand schwerfällig auf. Während sie langsam zu mir herüberhumpelte, sah ich wieder, wie alt sie war; wie schrecklich alt. »Ich kann heute abend nicht kochen, Kind. Ich hab solche Schmerzen in den Gelenken. Kannst du dir selbst was machen?«
»Aber natürlich. Möchtest du denn gar nichts essen, Großmutter?«
»Ich hab keinen Appetit. Der Regen macht mich ganz fertig. Ich geh jetzt nach oben und lese noch ein bißchen, ehe ich schlafe. An solchen Abenden, wenn das Wetter so schlimm ist, leg ich mich immer oben hin, da gibt die Arthritis am ehesten Ruhe. Es macht dir doch nichts aus, wenn ich jetzt raufgehe, Kind?«
»Großmutter -«
»Ja, Schatz ?« Sie war schon auf dem Weg zur Tür. Ich hatte mich ihr anvertrauen wollen, aber nun war der Impuls schon vorbei. So gern ich meiner Großmutter alles erzählt hätte, was ich in diesem Haus gesehen hatte, die Furcht, es für immer zu verlieren, hielt mich davon ab.
»Ach, nichts«, sagte ich deshalb. »Hoffentlich schläfst du gut, Großmutter. Und gute Besserung.«
»Danke, Kind. Gute Nacht. Brot und Marmelade stehen in der Küche. Und Tee kochen kannst du ja.«
Sie ging zur Tür hinaus, und wenig später hörte ich ihre schweren Schritte auf der Treppe. Als sich die Tür kaum eine Minute später wieder öffnete, glaubte ich, meine Großmutter wäre umgekehrt. Aber dann sah ich, daß es Jennifer war, die ins Zimmer trat. Und als ich Victor erblickte, der ihr folgte, hätte ich beinahe aufgeschrien.
»Es ist lieb von dir, daß du gekommen bist, Victor«, sagte sie, während sie durch das Zimmer zum Kamin ging. »Ich wäre schon viel früher gekommen, wenn du mich darum gebeten hättest.«
»Wir haben alle gehofft, daß du uns besuchen würdest. Warrington ist so klein, aber du hättest ebensogut in einem anderen Land leben können, so selten haben wir dich zu Gesicht bekommen.« Victor Townsend blieb an der Tür stehen, als hätte er Angst, nä-
herzukommen. Er hatte sich in diesem einen Jahr ein wenig verändert: Sein Haar war länger, und sein eleganter Anzug verriet Wohlhabenheit. Doch das Gesicht war dasselbe geblieben: still und unergründlich.
Jennifer drehte sich um. Das Licht der Flammen umriß ihren anmutigen, schlanken Körper. »Wir haben dich vermißt.«
»Wirklich?«
Sie senkte einen Moment die Lider und hob den Blick dann wieder. »Ja, ich jedenfalls.
Ich habe lange gehofft, du würdest uns besuchen, aber du bist nie gekommen.«
»Ich hatte viel zu tun. Es mangelt mir nicht an Patienten, und sie sind bereit, gut zu zahlen.«
»Du bist für deine niedrigen Honorare bekannt, Victor, und jeder in der Stadt weiß, daß du die Armen auch kostenlos behandelst. Du bist sehr beliebt in Warrington, und mit deinen neuen Methoden und Ideen hast du den schwerfälligen alten Ärzten hier Anregung zum Nachdenken gegeben. Wir sind alle sehr stolz auf dich.«
»Ja, die Praxis geht gut, und die Arbeit hält sich im Rahmen, würde ich sagen.
Knochenbrüche, Mandelentzündungen und alte Damen mit den Vapeurs.«
Jennifer lächelte. »So wie du das sagst, klingt es schrecklich langweilig. «
Victor erwiderte ihr Lächeln; aber es war ein Lächeln, das nicht von innen kam. »Das Leben eines Arztes hat mit Romantik wenig zu tun. Es ist zwar nicht unbedingt langweilig, aber so aufregend, wie die Leute es sich im allgemeinen vorstellen, ist es nicht.«
»Und - sonst, Victor ? Geht es dir gut ?«
Er sah sie einen Moment schweigend an. »Ja, es geht mir gut«, antwortete er dann.
»Und dir, Jenny?«
»O ja, es geht mir gut.« Es klang sehr kontrolliert. Jetzt endlich kam Victor durch das Zimmer und blieb erst dicht vor Jennifer stehen. Mit seinen dunklen Augen sah er sie aufmerksam an. »Wirklich, Jenny?«
»Aber natürlich...«
»Du brauchst mir nichts vorzumachen«, sagte er leise. »Ich bin sein Brüder. Ich kenne ihn sein Leben lang. John und ich haben keine Geheimnisse.
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