Haus der Erinnerungen
mir geht's gut. Gott, hast du mich eben erschreckt.«
»Du bist schrecklich nervös, Kind. Das gefällt mir gar nicht. Komm, gehen wir runter und machen uns einen heißen Tee.« Als ich wieder unten am Fenster saß und in den Regen hinausstarrte, gestand ich mir ein, wie recht meine Großmutter hatte. Ich war wirklich nervös.
Mehr als das - meine Nerven waren aufs Höchste angespannt. Aber was hätte ich anderes erwarten können. Ich aß nicht, ich schlief kaum und war Nacht für Nacht der Spielball heftiger Gefühle.
»Wirklich, Kind, ich möchte wissen, was dir fehlt. Du machst mir Sorgen. Und dazu dieser schreckliche Regen, wie sollen wir da einen Arzt ins Haus holen ?«
»Ich brauche keinen Arzt, Großmutter. Nur ein bißchen - eine Tasse Tee wird mir guttun.« Ich zwang mich, das süße Gebräu zu schlucken. Aber von meinem Toast brachte keinen Bissen herunter.
»Ist es wieder die Verdauung?«
»Nein!« Lieber Gott, niemals würde ich dieses gräßliche weiße Zeug hinunterbringen.
»Meine - Verdauung ist in Ordnung, Großmutter. Es ist nur - es ist nur...«
»Weißt du was, ich geh dir ein Glas Kirschlikör, und dann pack ich dich richtig ein, und du setzt dich ans Feuer. Du brauchst Wärme. Du frierst dich ja zu Tode. Schau dich doch nur an.« Sie neigte sich zu mir und berührte meinen Arm. »Um Gottes willen!« rief sie entsetzt. »Du bist ja so kalt wie eine Leiche!« Ich sah auf meine Arme hinunter.
»Es ist ein Wunder, daß du dir noch keine Lungenentzündung geholt hast. Wie kannst du diese Kälte nur aushaken ? Im Radio haben sie gesagt, daß die Temperaturen noch weiter fallen. Hier drinnen hat's keine zehn Grad. Ich hab drei Strickjacken an und friere immer noch. Und du - halbnackt. Ich frag mich wirklich, wie du das aushältst.«
Es ist dieses Haus, dachte ich. Es will mich langsam umbringen. Wir setzten uns ans Feuer, und obwohl ich unter der Hitze litt, blieb ich Großmutter zuliebe brav sitzen. Sie sollte sich keine Sorgen um mich machen. Und so saßen wir fast den ganzen Tag.
Am frühen Abend fühlte sich Großmutter so weit durchgewärmt, daß sie keine allzu starken Schmerzen mehr hatte, wenn sie sich bewegte. Sie ging in die Küche und machte uns ein kleines Abendessen. Wie ich es hinunterbrachte, weiß ich selbst nicht. Ich kaute und schluckte ganz automatisch, ohne etwas zu schmecken, und behielt es sogar bei mir.
Danach wurde ich schläfrig. Ich hatte schon lange nicht mehr soviel gegessen. Trotz meiner gereizten Nerven und der unablässigen Gedanken, die in meinem Kopf wirbelten, erlag ich schließlich der Hitze.
Als ich erwachte, sah ich als erstes auf die Uhr. Es war neun. Dann sah ich nach Großmutter. Sie schlummerte friedlich in ihrem Sessel. Draußen tobte immer noch der Sturm.
Im Zimmer brannte nur eine Stehlampe in der Ecke. Ein diffuses Licht erfüllte den Raum, und es zeigte mir John, der am Kamin stand. Er war nervös, trommelte mit den Fingern auf den Kaminsims, sah immer wieder auf die Uhr. Seine ganze Haltung drückte ungeduldige Erregung aus, und sein Gesicht war angespannt. Als Jennifer fast lautlos ins Zimmer schlüpfte und leise die Tür hinter sich schloß, atmete er erleichtert auf. Sie hatte eine gepackte Reisetasche mitgebracht.
»Danke, Liebes«, sagte John, als er sie ihr abnahm. »Hat dich jemand gehört?«
»Nein. Sie schlafen alle. Vater und Mutter haben sich vor ungefähr einer Stunde zurückgezogen, und Harriet schläft in unserem Bett. Ich lege mich heute nacht aufs Sofa im Salon.«
»Jenny -«
»Ich habe dir meine Granatohrringe eingepackt«, fuhr sie steif fort. »Sie haben fünf Pfund gekostet, da müßtest du eigentlich noch ein oder zwei Guineen für sie bekommen. Du wirst das Geld brauchen.«
»Jennifer.« Zaghaft und unsicher legte er die Arme um sie. »Es schmerzt mich tief, daß ich so plötzlich fort muß. Ich hatte gehofft, ich hätte noch ein paar Tage Zeit und wir könnten auf würdigere Weise voneinander Abschied nehmen. Aber nun hat mein ehrenwerter Bruder mir die Hunde auf den Hals gehetzt, und ich muß gleich fort, wenn ich mit dem Leben davonkommen will.«
Jennifers Gesicht war unbewegt, als ich ihre Wange küßte. »Du wirst mir schrecklich fehlen, Jenny, mehr als ich dir sagen kann. Ich werde oft an dich denken.« Sie sah ihn an wie versteinert. »Hast du keine Tränen für mich ?«
»Ich werde auf dich warten, John.«
»Ja, das weiß ich. Jetzt brauche ich nicht mehr zu fürchten, daß du mit Victor, diesem
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