Haus der Sonne
westwärts in die Innenstadt von Waikiki.
Ich wußte nicht, was ich von Waikiki erwarten sollte, glaubte aber, daß es irgendwie anders sein würde. Ich wurde enttäuscht. Es war nur eine Stadt wie jede andere, echt. Abgesehen von dem gebogenen Strand, dem dunkelblauen Meer und dem perfekten Wetter hätte es sich um jede beliebige Konzernenklave in jedem beliebigen Metroplex der Welt handeln können. Okay, es war sauberer als in den meisten Städten, die ich kannte. Aber abgesehen davon hätte es ebensogut das reiche Konzernviertel von Tokio oder Chiba sein können.
Warum ich zwei japanische Städte als Beispiel wählte? Die Leute auf den Bürgersteigen, Chummer, darum. Neun von zehn waren Japaner. Darüber wunderte ich mich eine Zeitlang, aber dann fiel mir etwas ein, das ich vor langer Zeit gelesen hatte. Offenbar war in den letzten Dekaden des vergangenen Jahrhunderts ein Haufen Japaner - und ein Haufen japanisches Geld - auf die Inseln gewandert. (Der Schlaumeier, der den Artikel geschrieben hatte, sagte so etwas wie: »Nachdem die Japaner Hawai'i im Zweiten Weltkrieg nicht erobern konnten, kamen sie hinterher einfach dorthin und kauften es.«) Fügte man zu dem großen Anteil der japanischstämmigen Bevölkerung die Touristenmassen von Angehörigen in Japan beheimateter Megakonzerne hinzu, hatte man die Erklärung.
Scott fuhr den Phaeton die breite, makellose Straße von Waikiki entlang und zeigte mir alles Wesentliche. Das Royal Hawai'ian Hotel - ›Pink Lady‹ nannte es Scott -, eine flamingofarbene Extravaganz in pseudomaurischem Architekturstil, die über hundert Jahre alt war, aber immer noch als eines der prächtigsten Hotels auf den Inseln galt. Der Internationale Marktplatz, ein Freiluft-Markt, auf dem Dutzende von Geschäften und Ständen unter den Zweigen eines Banyan-Baums ihre Waren anboten. (Scott erklärte, daß der ursprüngliche Internationale Marktplatz um die Jahrhundertwende in ein Versammlungszentrum umgewandelt worden sei, doch nachdem dieses im Jahre 2022 von einem Feuer zerstört worden sei, habe der Stadtrat angeordnet, einen neuen Banyan-Baum anzupflanzen, und der Marktplatz sei zu neuem Leben erwacht.) Und so weiter und so fort. Schließlich verschmolzen all die prächtig aussehenden Hotels zu einem einzigen, und meine Augen wurden langsam glasig.
Scott bemerkte es augenblicklich, fuhr den Wagen an den Straßenrand und sagte: »Sie langweilen sich, ist es das?«
Ich zuckte die Achseln. »Nennen Sie es Kulturschock.«
Der Ork schnaubte verächtlich. »Sie nennen das Kultur? Das ist Pomp, Bruder, schlicht und einfach.«
»Das meine ich ja«, antwortete ich. »Ich bin nicht daran gewöhnt, daß sich soviel Geld an einem Ort konzentriert.«
»Jetzt hab' ich's begriffen, Mr. Dirk.« Scott lachte. »Sie wollen die Kehrseite der Medaille sehen, richtig? Okay, sollen Sie haben.« Und er fuhr weiter.
Kaum waren wir aus der Waikiki-Enklave heraus und im richtigen Honolulu, fühlte ich mich sofort heimischer und auch wohler. (Irgendwie deprimierend, aber es ist nun mal so.) Scott zufolge liegt die offizielle Einwohnerzahl von Honolulu bei fast drei Millionen - und damit um nur hunderttausend niedriger als die Seattles. Natürlich handelt es sich in beiden Fällen nur um die offizielle Zahl. Wenn man in Seattle noch die SINlosen hinzunimmt - die Obdachlosen, die Bedürftigen, die I )urchreisenden und die Shadowrunner -, steigt diese Zahl, je nachdem, welcher Schätzung man glauben soll, auf knapp vier bis über fünfeinviertel Millionen.
Bei der Einwohnerzahl Honolulus handelt es sich wahrscheinlich ebenfalls um eine zu niedrige Schätzung, aber nachdem wir eine Weile durch Straßen und Sträßchen gefahren waren, konnte ich nicht glauben, daß der Unterschied zwischen offizieller und tatsächlicher Bevölkerung so groß war. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich sah durchaus Vagabunden und Obdachlose. (Ich sorgte dafür, daß Scott entsprechende Orte in unsere Rundreise einschloß.) Aber sie waren nicht annähernd so zahlreich wie in Seattle oder auch Cheyenne. Es gab ein paar ziemlich drekkige Armen-Wohngegenden und ein oder zwei uralte Wohnkomplexe, bei denen man unwillkürlich an Stadtsanierung vermittels Sprengstoff denken mußte, aber es gab nichts, das ich wirklich als Slum einstufen würde. Und es gab mit Sicherheit keine so verkommenen und nervtötenden Gegenden wie Hell's Kitchen, Glow City oder die Barrens in Seattle.
Das Interessanteste an Honolulu war für mich die relative
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