Haus der Vampire 03 - Rendezvous mit einem Unbekannten-ok
kannte diesen Tonfall. Man verwendete ihn für alte, kranke Menschen, für Menschen, die nicht mehr richtig verstanden, was um sie herum vorging. Menschen, von denen man annahm, dass sie nicht mehr lange unter den Lebenden weilen würden. Ihn von Amelie zu hören, war wirklich seltsam, weil Claire auch die Liebe in dieser leisen Stimme bemerkte. Konnten Vampire lieben? Ja, logisch, dachte sie; Michael konnte es, oder? Warum also nicht auch Amelie?
Claire trat auf die gebieterische Geste der Vampirin hinter Amelie hervor und suchte unruhig das Zimmer ab. Es war groß und mit der seltsamsten Mischung aus Geräten und Ramsch vollgestopft, die sie je gesehen hatte. Ein brandneuer Breitbild-Laptop mit einer sich wiegenden Bauchtänzerin als Bildschirmschoner. Ein Abakus. Ein Chemiekasten, der aussah, als stamme er direkt aus einem alten Sherlock-Holmes-Film. Noch mehr Bücher, die nachlässig gestapelt Stolperfallen darstellten und sich auf allen Tischen türmten. Lampen – einige elektrisch, andere mit Öl. Kerzen. Flaschen und Gläser und Schatten und Winkel und...
Und ein Mann.
Claire blinzelte, weil sie eine alte, kranke Person erwartet hatte, so sehr, dass sie sich noch einmal umschaute, um sie zu finden. Aber der einzige Mann in dem Raum saß in einem Sessel und las seelenruhig ein Buch. Er markierte die Stelle mit dem Finger, schloss es und schaute zu Amelie auf.
Er war jung oder zumindest sah er so aus. Schulterlanges, lockiges braunes Haar, große dunkle Hundeaugen, makellose, leicht goldene Haut. Er war im Alter von vielleicht fünfundzwanzig Jahren stehen geblieben, gerade alt genug, dass sich Fältchen in seinen Augenwinkeln gebildet hatten. Darüber hinaus war er wirklich, wirklich... g ut aussehend.
Und krank sah er auch nicht aus. Ganz und gar nicht.
»Ah, gut, ich habe dich schon erwartet«, sagte er. Er sprach englisch, hatte aber irgendeinen Akzent, den Claire nicht identifizieren konnte. Es klang ein bisschen wie Irisch, ein bisschen wie Schottisch... aber irgendwie flüssiger. Walisisch? »Claire, nicht wahr? Tritt ruhig näher, Mädchen, ich beiße nicht.« Er lächelte und anders als Amelies kühle Versuche war es ein warmer, echter Gesichtsausdruck voller Fröhlichkeit. Claire machte einige Schritte auf ihn zu. Sie fühlte, wie sich Amelie hinter ihr anspannte, und fragte sich, warum. Myrnin schien okay zu sein. Eher als jeder andere Vampir, den sie bisher getroffen hatte, abgesehen von Sam vielleicht, Michaels Großvater – und Michael, der jüngste Vampir in Morganville.
»Hallo«, sagte sie und erntete ein noch breiteres Lächeln.
»Sie spricht! Hervorragend. Ich kann niemanden gebrauchen, der kein Rückgrat hat. Sag mir, kleine Claire, magst du die Wissenschaften?«
Was für eine antiquierte Ausdrucksweise... die Wissenschaften. Man sagte normalerweise Wissenschaft oder nannte ein bestimmtes Gebiet wie Biologie oder Kernforschung oder Chemie. Immerhin wusste sie die angemessene Antwort. »Ja, Sir. Ich liebe die Wissenschaften.«
In seinen dunklen Augen funkelte leicht schalkhafter Humor. »Wie höflich du bist. Und Philosophie?«
»Ich – ich weiß nicht. An der Highschool hatten wir das nicht und auf dem College bin ich noch nicht so lang.«
»Wissenschaft ohne Philosophie ist Unsinn«, sagte er sehr ernst. »Und Alchemie? Weißt du darüber irgendetwas?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie wusste, was es bedeutete, aber ging es dabei nicht darum, Blei in Gold zu verwandeln und all so was? Irgendeine Art Hokuspokus-Wissenschaft?
Myrnin sah zutiefst enttäuscht aus. Sie wollte ihn fast schon anlügen und sagen, sie hätte eine Eins in Alchemie für Anfänger bekommen.
»Stell dich bitte nicht so an, Myrnin«, sagte Amelie. »Ich sagte dir doch schon, dass dieses Zeitalter dem Thema nicht besonders viel Achtung entgegenbringt. Man findet niemanden, der die hermetischen Künste beherrscht, also musst du schon nehmen, was da ist. Nach allem, was man so hört, ist dieses Mädchen ziemlich begabt. Sie sollte in der Lage sein zu verstehen, was du sie lehrst, wenn du nur Geduld mit ihr hast.«
Myrnin nickte ernüchtert und legte das Buch beiseite. Er stand auf – und auf – und auf. Er war groß und schlaksig mit seinen langen Armen und Beinen, wie eine menschliche Heuschrecke. Außerdem trug er eine verrückte Kleiderkombination – nicht direkt wie ein Obdachloser, aber auf jeden Fall abgefahren. Er trug ein längs gestreiftes Strickhemd unter etwas, das wie ein Gehrock aussah, dazu
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