Haus des Blutes
Süße.« Ihre Mundwinkel bogen sich traurig nach oben, als sie lächelte, ein Lächeln, aus dem Erschöpfung und ein Gefühl von Verlust sprachen. »Aber du musst dich bitte mal kurz für mich zusammenreißen, ja? Ich habe gerade einen kleinen Streit mit Miss Scully hier.«
Sie nickte in Karens Richtung.
Dream war entsetzt, als sie das tränenüberströmte Gesicht ihrer asiatischen Freundin bemerkte. Erneut fühlte sie einen stechenden Schmerz der Scham und zuckte innerlich zusammen. Gott, wie konnte sich ein Mensch nur so sehr in einer Fantasie verrennen, dass er den emotionalen Zusammenbruch eines Menschen, der ihm nahestand, nicht mitbekam? Angesichts der geradezu grotesken Unangemessenheit ihrer Gedanken hätte sie am liebsten laut losgeheult.
Aber … bei Gott … die Gedanken wollten einfach nicht verschwinden.
Dream zwang sich zu einer Antwort: »Worüber streitet ihr denn?«
Alicia sah sie finster an. »Du bist wirklich nicht ganz bei dir.« Sie seufzte und schielte kurz zu Karen hinüber, bevor sie fortfuhr. »Wir streiten darüber … was Shane umgebracht hat.«
Karen wimmerte. Ein Geräusch, das sich mitten in Dreams ohnehin schon überstrapaziertes Herz bohrte.
»Inwiefern?«
Alicias Gesichtsausdruck wurde noch finsterer. »Sie besteht darauf, dass er von einem Monster getötet wurde. Sie hat Edward gerade erzählt, was sie im Wald gesehen zu haben glaubt. Eine lebhafte Beschreibung, das gebe ich zu, aber ganz offensichtlich eine Konsequenz von Hysterie und Anspannung. Ich denke, dass sie Shanes Mörder nicht richtig erkennen konnte. Deshalb hat ihr Verstand sie mit Bildern aus Filmen und Büchern versorgt. Wahnvorstellungen …«
Karen drehte sich zu ihr um. »Ich hab gesehen, was ich verdammt noch mal gesehen habe, Alicia!« Sie rutschte ans andere Ende des Sofas. »Ich bin nicht verrückt, ich stehe nicht unter Drogen und hab auch keine Halluzinationen von irgendwelchen Monstern. Herrje, mein Verstand ist nicht so zerbrechlich, wie du denkst. Wenn du mir nicht glauben willst, fein, es ist mir egal, verdammte Scheiße, aber bitte hör endlich auf, mich zu beleidigen.«
Alicia schloss die Augen und atmete langsam aus. Ihre Lippen bewegten sich, und Dream wusste, dass sie stumm bis zehn zählte. Sie versuchte, ihren inneren Ruhepol zu finden, jenen Punkt, den sie immer dann anzapfte, wenn sie überschüssige Feindseligkeit abbauen musste. Dream hatte es schon gefühlte eine Million Mal miterlebt.
Alicia kehrte aus ihrer Meditation zurück und sprach betont ruhig weiter. »Es tut mir leid, wenn ich dich beleidigt habe, Karen. Das war nicht meine Absicht. Wir stehen alle mächtig unter Druck, und ich denke, dass wir uns viel besser fühlen, sobald uns jemand ins nächste Hotel gefahren hat. Stimmt’s, Dream?«
Dream musste ihre Antwort herausquetschen. Es war ihr äußerst unangenehm, als sie merkte, wie sehr das Geräusch einem Stöhnen ähnelte. Einem Laut der Enttäuschung. Sie konnte nicht anders, als King einen flüchtigen Blick zuzuwerfen. »Ähm … ja, sicher.«
Aber es gefiel ihr ganz und gar nicht, Alicias unbeirrbarer Angewohnheit nachzugeben, sie stets in die richtige Richtung lenken zu wollen. Dream mochte es nicht, zu etwas überredet zu werden. Und sie wollte sich nicht in irgendeinem beschissenen Hotel das Leben nehmen. Ihr wäre es lieber gewesen, ihre womöglich letzte Nacht auf Erden unter Kings Dach zu verbringen.
In seinem Bett.
Sie seufzte.
Der Laut eines frustrierten kleinen Mädchens. Sie ärgerte sich darüber, dass ihr dieses Seufzen entwichen war. Es war ihr peinlich, und sie fühlte sich kindisch deswegen, aber sie hatte nichts dagegen tun können.
Sie wollte nicht gehen.
Sie würde nicht gehen.
Scheiß drauf. Scheiß auf die anderen. Scheiß auf alles.
Ein Ausdruck der Verbitterung zeichnete sich auf Alicias Gesicht ab. »Ach, hör doch auf, Dream!« Sie zuckte übertrieben mit den Schultern. »Bitte verarsch mich nicht. Ich seh doch, dass du dem Kerl hier schon die ganze Zeit schöne Augen machst. Schön, gut, Begierde verstehe ich durchaus. Was ich allerdings nicht verstehe, ist ein Mangel an Anstand in einer Stresssituation. Das ist verdammt noch mal nicht der richtige Moment für ein Techtelmechtel. Ich zähl auf dich, Süße. Du musst mir helfen, von hier wegzukommen.«
Dream schäumte.
Alicias berühmt-berüchtigte Schonungslosigkeit hatte also nicht gelitten, auch wenn es schon lange her war – kurz nach dem Zwischenfall mit der Rasierklinge –,
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