Haus des Todes
Er drückt so lange auf die Klingel, bis im Flur das Licht angeht.
»Wer ist da?« Eine Männerstimme, sie hört sich müde an.
Caleb hofft, dass die Frau im Bett geblieben ist. »Dr. Stanton?«
»Ja.«
»Ich bin’s, James, von weiter die Straße rauf«, sagt Caleb und versucht, verzweifelt zu klingen. »Es geht um meine Tochter, wir hatten einen Unfall. Bitte, bitte, Sie müssen mir helfen«, sagt er, und bevor er den Satz beendet hat, hört er, wie aufgeschlossen wird.
Und die Tür öffnet sich.
Er ist Dr. Stanton nie begegnet, aber er kennt Bilder von dem Prozess vor siebzehn Jahren, als Stanton große
Reden geschwungen und behauptet hat, nicht jeder Mensch könne für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden. Doch damit lag er falsch. Seit damals hat der Arzt zugenommen, und sein Haar ist schütterer geworden und vollkommen ergraut, und aus irgendeinem Grund erfüllt Caleb dieser Anblick mit Freude.
Stanton mustert ihn vom Scheitel bis zur Sohle, bemerkt das Blut und ist bestürzt. »Wo ist sie?«, fragt er.
»Erkennen Sie mich nicht wieder?«, sagt Caleb.
Stanton hat einen Fuß vor die Tür gesetzt und bleibt plötzlich stehen. Caleb sieht dem Arzt an, dass er etwas ahnt, sein Psychiaterradar empfängt Signale von der Gefahr, die nur wenige Zentimeter von ihm entfernt auf ihn lauert, aber es hat die Peilung viel zu spät aufgenommen.
»Sie wiedererkennen? Nein, das tue ich nicht«, antwortet er zögerlich. »Haben Sie … haben Sie eine Tochter?« , fragt er, denn offensichtlich hat er begriffen, dass hier was nicht stimmt.
»Ja.«
»Wo ist sie?«
»Sie ist gestorben.«
Stanton hält inne. Er tritt einen kurzen Schritt zurück. Und streckt den Arm aus, um nach der Tür zu greifen. »Wie, sagten Sie, ist Ihr Name?«
»James«, sagt er, »aber das stimmt nicht.«
»Hören Sie, James«, sagt Stanton und begreift nicht, während er einen weiteren Schritt zurück macht. »Ich habe keine Ahnung, was für ein Spiel Sie …«
Er verstummt, und das letzte Wort verändert seinen
Klang, als Calebs Faust auf Stantons Nase trifft. Der Arzt stolpert rücklings in den Flur, während er sich mit den Händen das Gesicht hält.
Caleb folgt dem guten Arzt ins Haus und schließt die Tür hinter sich. Er versucht, die Schmerzen aus der Hand zu schütteln. Er hat die rechte benutzt, obwohl er die linke hätte nehmen sollen, doch er hat instinktiv gehandelt, und jetzt muss er dafür büßen. Seine Hand hat sich zur Faust verkrampft, und es wird einen Moment dauern, bis er sie wieder öffnen kann. Er verpasst dem Arzt einen Tritt in die Magengrube. Greift mit der unverletzten Hand in den Hosenbund und zückt sein Messer, während Stanton auf dem Boden landet. Caleb lässt seinen Blick umherwandern; sie befinden sich in der Diele, die zur Linken in einen Raum mit Sitzecke führt, geradeaus vermutlich in ein Wohnzimmer und zur Rechten Richtung Treppe. Es ist niemand zu sehen.
»War das deutlich genug?«
»Sie aben ir die Ase gebrochen«, sagt Stanton und schaut hinter seinen schützend vorgewölbten Händen hervor.
»Ich werde dir sämtliche Knochen brechen, wenn du nicht aufhörst zu jammern. Wo ist deine Frau?«
»Was?«
»Deine Frau. Ist sie im Bett?«
»Er.«
»Was?«
»Er bist du?«
»Roll rüber«, sagt Caleb genervt, weil die Sache langsam
kompliziert wird. »Oder ich ramme dir das Messer in die Brust. Und dann werde ich bei deinen Kindern dasselbe tun.«
»U meinen Indern icht weh.«
Scheiße. Er hat keine Zeit für so was. Womöglich telefoniert seine Frau schon mit der Polizei. Caleb lässt das Messer so schnell er kann herabsausen, der Arzt weicht zurück, doch es gibt kein Entkommen – der Griff knallt gegen seinen Kopf. Das sollte ihn für eine Weile außer Gefecht setzen.
»Daddy?«
Die Stimme kommt von oben. Caleb steckt das Messer hinten in die Hose und tritt an die Treppe. Am oberen Absatz steht ein Mädchen, ein kleines Mädchen mit struppigem, schulterlangem braunem Haar. Sie trägt einen rosafarbenen Schlafanzug, hat einen Teddybären unter ihren Arm geklemmt und kaut auf einem Finger herum. Sie hat die Augen weit aufgerissen und ist ganz bleich im Gesicht. Langsam geht er auf sie zu.
»Wer bist du?«, fragt sie.
Er wirft einen kurzen Blick zu Stanton in die Diele und kommt zu dem Schluss, dass die Kleine ihren Vater von der Treppe aus nicht sehen kann.
»Alles in Ordnung«, sagt er mit ruhiger Stimme, doch er merkt, dass sie ihm nicht glaubt. Er weiß, dass sie kurz davor
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