Haus des Todes
festgehalten, die gerade begangen wurden, aber in so weiter Entfernung, dass man es auf dem Bild nicht erkennen kann.
Vom Fenster aus hat man einen Blick auf die Stadt, die hinten im Osten, wo die Sonne gerade aufgeht, in ein rotes Licht getaucht ist. Ich kann den Avon River sehen, der sich die Durham Street entlangschlängelt; die Uferböschung ist noch grün und wird von Straßenlaternen beschienen. Ein paar Jogger sind unterwegs, und ihr keuchender Atem bildet in der Luft kleine Wolken. Es ist ein ruhiger Morgen, und es gibt kaum ein Lebenszeichen, nicht mal Vögel sind zu sehen.
An der Hauptwand des Zimmers hängt eine Karte mit Stecknadeln, die die Tatorte markieren. Daneben befinden sich Fotos der Opfer. Und der Tatorte. Nach vierundzwanzig Stunden ist an der Wand fast kein Platz mehr. Morgen muss vielleicht erneut ein Trupp Bauarbeiter
anrücken, um den Raum noch einmal zu erweitern, vielleicht sogar über die Gebäudegrenzen hinaus. Die Stühle sind im Schachbrettmuster angeordnet und alle nach vorne ausgerichtet. Ich setze mich hinten hin, Schroder weiter vorne. Nach und nach betreten weitere Mitarbeiter das Zimmer. Viele von ihnen gähnen. Viele von ihnen haben einen Kaffee in der Hand, der nicht hier im Revier gebrüht wurde. Die meisten erkennen mich und müssen zweimal hinschauen.
Es ist kurz nach sieben, doch die Besprechung hat immer noch nicht angefangen. Die meisten bleiben auf ihren Stühlen sitzen, denn sie wissen, dass es nur noch wenige Minuten dauern kann. Draußen wird der Himmel immer heller, der rote Schimmer über der Stadt immer kräftiger. Um Viertel nach sieben betritt Superintendent Dominic Stevens den Raum. Von allen Personen hier wirkt er am ausgeschlafensten. Die Gespräche der Anwesenden verstummen, und wir sehen dabei zu, wie er vorne seinen Platz einnimmt. Stevens ist gerade mal Anfang sechzig und laut Schroder momentan ziemlich gereizt, weil er mit dem Rauchen aufgehört hat. Sein Schädel ist glatt rasiert und sein Gesicht voller Pockennarben. Er hat eine tiefe Stimme, und seine Uniform ist akkurat gebügelt.
»Vier Opfer«, sagt er, als würde er uns einen guten Morgen wünschen, »und ich muss ja wohl nicht jedem von euch gesondert erklären, dass er hundertprozentigen Einsatz zu bringen hat. Sollte einer von euch noch mal betrunken an einem Tatort aufkreuzen, dann, das kann ich euch versprechen, ist das sein letzter Tag mit Marke
gewesen.« Obwohl er in einem gleichmäßigen, ruhigen Tonfall spricht, nimmt das seiner Drohung nichts von ihrer Schärfe. »Könnte ich den einen oder anderen Mitarbeiter entbehren, würde ich jetzt einige von euch feuern, nur damit ihr wisst, wie sauer ich bin. Und zwar auf jeden hier in diesem Raum.« Für ein paar Sekunden ist sein Blick auf Schroder gerichtet, dann lässt er ihn über den Rest der Truppe wandern.
»Nun, es macht mir keinen Spaß, mich wie ein Arschloch aufzuführen, das hier reinmarschiert kommt und euch zur Sau macht, aber offensichtlich braucht ihr das. Also, ich hätte nie im Traum daran gedacht, dass ich so qualifizierten Leuten wie euch erklären muss, wie unangebracht es ist, betrunken zur Arbeit zu erscheinen. Aber vielleicht ist es ja meine Schuld, vielleicht habe ich euch einfach überschätzt.«
Niemand im Zimmer kann seinem Blick standhalten. Für einige scheinen die Tische das Interessanteste zu sein, das sie je gesehen haben; für andere sind es die eigenen Schuhe, das Fenster oder ein Punkt etwa zwei Meter rechts neben Stevens.
»Okay, ich sehe, ihr habt verstanden«, sagt er. »Nun, ich weiß, dass ihr alle müde seid. Keiner hier hat schon mal was Vergleichbares erlebt, aber irgendein krankes Arschloch ist da draußen unterwegs und tötet die Bürger unserer Stadt, und heute werden wir uns diesen Scheißkerl schnappen. Danach könnt ihr alle nach Hause gehen und schlafen. Also, ich hatte eigentlich nicht vor, mich hier hinzustellen und eine Motivationsansprache zu halten,
aber ihr scheint das ja zu brauchen«, sagt er und legt los, geht die einzelnen Arbeitsabläufe Schritt für Schritt durch und betont, wie wichtig es ist, dass wir es nicht vermasseln, spricht alles bis ins kleinste Detail durch. Als er fast fertig ist, schaut er in meine Richtung und erklärt, dass keiner von uns es sich leisten kann, die Polizei zu enttäuschen, und dass die Stadt mehr denn je auf uns angewiesen ist. Ich bin ganz seiner Meinung.
»Ich weiß, die Emotionen kochen hoch«, sagt er. »Wir haben gestern einen unserer
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