Haus Ohne Hüter
»Natürlich, ich kam gerade, als sie abfuhren.« Albert wartete auf die Stimme der anderen, eine Stimme, die er erkannte von den vielen Telefonaten her, die er mit Bresgote führte. Er hatte manchmal nur telefoniert, um diese Stimme zu hören: freundliche, träge Willfährigkeit klang daraus und ein paar merkwürdige, gegensätzliche Töne, die ihn an Leens Stimme erinnerten.
Das Mädchen am Wasserhahn ließ sein Besteck in die Kitteltasche gleiten, zog
den rötlichen Kamm aus dem Haar, nahm ihn in den Mund und fing an, mit den Fingern die Frisur zurechtzuzup Ȭ fen.
Albert ging auf sie zu: »Hören Sie«, sagte er, »Ich muß sehr dringend
telefonieren. Kann ich ȇ s von hier aus?« Sie schüttelte den Kopf, und ihre Finger rollten eine Locke des brüchigen Haares zurecht. Sie nahm den Kamm aus dem Mund, steckte ihn in den spärlichen Dutt zurück und sagte: »Geht nicht von der Zentrale aus, gehen Sie doch an den öffentlichen.« »Ich kann hier nicht weg, ich warte auf Bresgote.« »Er kommt ja gleich, eben rief er schon an, daß er geht«, sagte das Mädchen von drinnen, und von der Stimme her stellte er sich das Mädchen vor: groß und schwer, mit einem langsamen, rhythmischen Gang, und er wurde neugierig, sie zu sehen, das
179
Mädchen mit der weichen Stimme, aus der eine freundliche Willfährigkeit
herausklang, ein weißes Gesicht würde sie haben und ein großes, ruhiges Auge.
Das andere Mädchen stand immer noch am Spiegel und überpuderte sich die
rötlichen Nasenränder.
»Die Wurst ist gut, sagst du?« fragte die, die im Zimmer saß. »Prima«, sagte die am Spiegel, »auch das Gemüse. Laß dir nachgeben, es ist wirklich gut. Sogar der Kaffee ist besser geworden, seitdem wir gemeutert haben. Nimm doch statt Pudding ȇ nen Bienenstich.«
»Man sollte sich beschweren wegen des Puddings. So was dürfte nicht
vorkommen.«
Albert wußte nicht, ob er gehen oder warten sollte. Es war Viertel nach.
»Haben die Mädels von drüben auch gesagt.« Sie trat vom Spiegel zurück, stieß die Tür mit dem Fuß auf, und er sah die andere Telefonistin dort sitzen. Er erschrak, weil sie fast genauso aussah, wie er sie sich vorgestellt hatte: weich und blond, mit großen, dunklen Augen, von einer leidenschaftlichen Trägheit, einfach gekleidet: grüner Pullover und brauner Rock in der Öff Ȭ nung des Kittels zu sehen. »Hier Wochenend im Heim, nein, heute ist niemand zu sprechen. Wir haben Betriebsausflug, nein, rufen Sie bitte morgen wieder an.« Die Tür wurde geschlossen, er hörte die beiden Mädchen übers Essen sprechen, bis die Tür wieder geöffnet wurde und das blonde Mädchen mit dem Eßbesteck in der Hand in der Tiefe des dunklen Flurs verschwand. Merkwürdig, daß er an Leen denken mußte, wenn er die Stimme dieses Mädchens hörte, das Leen so wenig glich. Leen hatte ihm am Telefon immer alles gesagt, was sie ihm, wenn er bei ihr war, zu sagen sich schämte. Sie hatte ihre ganze Theologie ausgekramt. Abhandlungen über die Ehe, die Sünden vor der Ehe in eine schmutzige Londoner Telefonmuschel hineingeflüstert. Leen hätte sich lieber erdolcht, als seine Geliebte zu werden. Das große, wohlgeformte Mädchen, das mit einem eleganten natürlichen Schwung um die Ecke ins Treppenhaus verschwand, erregte ihn, vielleicht wäre es gut gewesen, so eine zu heiraten, freundliche Göttin, leidenschaftlich träge, eine, die aussah wie das Gegenteil von Leen, aber Leens Stimme hatte. Er starrte nachdenklich auf die braungebeizte Tür der Telefonzentrale und erschrak,
Bresgote rief: »Verzeih, daß ich dich warten ließ, ich muß dich dringend sprechen, sehr dringend.«
Bresgote nahm Albert bei der Schulter, schob ihn zur Treppe hin, lief dann
zurück, um die Tür zur Telefonzentrale zu öffnen, und rief dem Mädchen zu:
»Von fünf ab bin ich zu Hause erreichbar. «
Bresgote kam zurück, und sie gingen zusammen die Treppe hinunter. »Ich hoffe, du hast ein wenig Zeit?« »Ja«, sagte er, »Zeit habe ich, aber ich muß nach Hause, nach dem Jungen sehen.«
»Können wir uns dort ungestört unterhalten?« »Ja.«
»Gut, gehn wir zu dir. Welcher Junge ist es, nach dem du sehen mußt? Hast du einen Sohn?«
»Nein«, sagte Albert, »es ist der Sohn meines Freundes, der gefallen ist.«
Er schloß das Auto auf, das im Hof neben der Verladerampe der Druckerei stand, stieg ein, öffnete von innen und ließ Bresgote zu sich klettern.
»Verzeih«, sagte er, »ich bin sehr in Eile, zu Hause haben wir dann
Weitere Kostenlose Bücher