Hausbock
da oben in
Hamburg?«
»Sie wird nicht begeistert sein, wenn die Polizei anruft. Passen Sie
auf, dass sie nicht gleich wieder auflegt, wenn Sie sich melden.«
»Warum?«
»Sie ist … sie ist in der Autonomenszene, im Schanzenviertel.«
»Eine Autonome aus dem Anlautertal«, sagte Morgenstern erstaunt. »Da
wird Ihr Vater keine große Freude dran gehabt haben.«
»Das können Sie sich denken.«
Die Familie Ledermann hatte sich im Laufe der Jahre in ihre
Bestandteile aufgelöst. Das hatte auch ein Kachelofen mit Engelsköpfen nicht
verhindern können. Morgenstern brauchte nicht viel Phantasie, um sich
vorzustellen, wie der gestrenge Amtsrichter und die aufbegehrende junge Tochter
in der beschaulichen Mühle aneinandergerieten, dass die Fetzen flogen.
Ledermann junior seufzte. »Ich habe sie früher noch jedes Jahr an
ihrem Geburtstag angerufen. Und ich habe mir bis vor ein paar Jahren auch den
Spaß gemacht, ihr zum internationalen Frauentag zu gratulieren. Ob Sie es
glauben oder nicht, das fand sie prima. Wir unterhielten uns dann immer ein
bisschen, als wäre alles ganz normal und als würde sie gleich in der nächsten
Woche mal bei mir vorbeischneien. Aber dann ist unser Kontakt irgendwie eingeschlafen.«
Er schwieg kurz. »Darauf kann man als Bruder nicht stolz sein.«
Morgenstern dachte an seine eigenen Kinder. Was würde aus ihnen wohl
eines Tages werden? Würde er ihre Entwicklung steuern können? Wann würde der
Tag kommen, an dem sie sich von ihm entfernten, an dem sie sich gar für ihn und
das Leben, das er führte, schämten? Und wäre das dann nur eine kurze
Pubertätsphase, oder würde es ein schleichender, nicht rückgängig zu machender
Prozess der Entfremdung werden?
Er gab sich einen Ruck. »Also, Herr Ledermann, ich erwarte Sie
morgen um neun. Und wir schauen, dass auch Ihre Mutter und Ihre Schwester hier
sein werden. Wobei Sie sich Ihr nächstes Familientreffen vermutlich anders
vorgestellt hatten.«
»Um ehrlich zu sein, nein. Wissen Sie, Herr Kommissar, uns allen war
klar, dass uns nur ein trauriger Anlass wieder an einem Ort versammeln könnte.
Am Friedhof, an einem offenen Grab. Und ich bin mir nicht sicher, ob Raphaela
auch wirklich kommt.«
»Sie wird kommen«, sagte Morgenstern aus einem unerklärbaren Gespür
heraus. »Oder ich hole sie.«
Morgenstern ging ins Nachbarbüro, in dem Peter Hecht ihn bereits
erwartete. Er hatte Kaffee gekocht und füllte Morgensterns Lieblingstasse –
eine Pfandtasse vom Nürnberger Christkindlesmarkt, auf der der »Schöne Brunnen«
abgebildet war. Hecht hatte gute Nachrichten. Es war ihm gelungen, Ledermanns
Exfrau zu erreichen, und sie hatte ihm versprochen, am nächsten Morgen ins
Präsidium zu kommen. Eigentlich hatte sie sofort losfahren wollen, um sich im
Anlautertal ein Bild von der Lage zu machen – die Identifizierung des
Toten war ihr offenbar deutlich weniger wichtig, so Hecht. Aber er hatte ihr
klargemacht, dass sie an der Schwarzmühle momentan niemandem eine Hilfe sein
würde.
»Ich weiß natürlich nicht, ob sie nicht trotzdem hinfährt«, sagte
er. »Aber dann kann wenigstens keiner sagen, ich sei schuld gewesen, wenn sie
auf offener Bühne einen Nervenzusammenbruch erleidet. Sie hat in dem Haus
immerhin eine wichtige Zeit ihres Lebens verbracht.«
»Aber nicht unbedingt die glücklichste, scheint mir«, sagte Morgenstern.
»Der Fuchsbau einer kaputten Familie«, murmelte er sinnend und schob Hecht dann
seinen Notizblock mit Raphaela Ledermanns Telefonnummer zu. »Ihr Bruder hatte
die Nummer. Sie haust irgendwo in Hamburg. Sie ist bei den Autonomen.« Er
berichtete kurz, was er von Ledermann junior erfahren hatte.
»Uns bleibt auch nichts erspart«, stöhnte Hecht. »Und ich hatte mich
auf einen gemütlichen Sonntagnachmittag gefreut.« Er wählte die Nummer und
drückte die Lautsprecherfunktion, damit Morgenstern mithören konnte.
Das Telefon tutete nur ein einziges Mal, dann meldete sich eine
Frauenstimme: »Ja?«
Morgenstern sah Hecht zufrieden an. Heute war ein Tag, an dem sie
sogar den Papst im Vatikan erreicht hätten.
»Legen Sie jetzt bitte nicht gleich auf, Frau Ledermann, es geht um
Ihren Vater in Titting«, sagte Hecht eilig, ohne sich schon im ersten Satz als
Polizist zu outen. Das hatte Morgenstern ihm dringend ans Herz gelegt. Aus
Sicht der jungen Frau sei der Oberkommissar Peter Hecht aus Schrobenhausen,
leidenschaftlicher Träger dunkelbrauner Wollpullunder mit Rautenmuster, nichts anderes
als ein
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