Hausers Zimmer - Roman
sagte nun, dass Helmut Schmidt gerade in Washington eingetroffen sei, um mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan die aktuelle Lage in Polen zu besprechen. Wiebke war augenblicklich dafür, demnächst wieder Päckchen zu schicken. Ich nickt e – das tat ich nämlich gern. Zusammen in der Küche zu sitzen und Päckchen zu packen hatte etwas Gemütliches. Außerdem mussten auf den Straßen in Polen Hausfrauentrupps auf leere Töpfe schlagen, damit der Staat ihnen Essen gab. Im Atlas hatte ich gesehen, wie nah diese müden Gesichter und die hochgereckten Arme mit den leeren Kochtöpfen uns waren. Näher als unsere gesamte Verwandtschaft in Restdeutschland. Sehr nahe. Nur zwei Zentimeter. Im Atlas.
Beim letzten Päckchenpacken hatte ich mich sogar von zwei Schlümpfen aus meiner Sammlung getrennt. Hoffentlich wusste das polnische Kind meinen Kochschlumpf und meinen Tennisschlumpf zu schätzen.
Wiebke schaute weiter auf unser wie immer leicht verwackeltes Fernsehbild, schüttelte den Kopf und sagte: »Der Schmidt raucht viel zu viel. So kann man nicht alt werden. Wir brauchen den doch noch.«
Klaus sprang auf und hantierte an der kleinen Antenne herum, ohne dass sich nennenswerte Fortschritte der Bildqualität daraus ergaben. Dennoch unternahm er jeden Abend den Versuch, das Fernsehbild zu verbessern.
Hauser war da. Vom Fenster aus sah ich, dass er mit nacktem Oberkörper auf dem Bett vor seiner Hawaiitapete lag. Er nickte im Takt mit dem Kopf, dann rollte er sich auf die Seite zu seinem Stereotower, der zugleich sein Nachttisch war, und stellte die Musik lauter, so dass ich sie jetzt auch hörte. Es war diesmal nicht AC / DC , sondern Hoy no me puedo levantar, ein spanischer Popsong. Ich verstand nicht viel außer der Titelzeile, von der Anna mal gesagt hatte, sie bedeute »Heute kann ich nicht aufstehen«, und der Zeile Toda la noche sin dormi r – der Hauser verstand mich, zweifellos, vielleicht war das sogar eine geheime Botschaft? Jetzt schien der Hauser mitzusingen. Ob er schon oft in Spanien gewesen war? Vielleicht sogar in Südamerika? Ich stellte mir vor, mit dem Hauser auf dem Motorrad immer weiter nach Süden zu fahren. Vielleicht würde ich ja mal eine Reise bei Auf los geht’s los gewinnen, dann würde ich ihn fragen, ob er meine Begleitung sein möchte.
Wie zur Antwort hievte sich der Hauser aus seinem Bett, nahm einen Schluck Bier und ging aus dem Zimmer. Zack, war mein orangefarbenes Licht verschwunden. Ausgeknipst. Für einen Moment waren meine Augen wie blind. Dann sah ich den schwachen Schein der runden Papierlampe aus dem Zimmer direkt neben meinem. Klaus’ monotones Klacken auf der Schreibmaschine gehörte selbstverständlich zu meinen langen Abenden dazu. Manchmal schreckte ich mitten in der Nacht hoch und hörte das Tippen. Dieses beharrliche Geräusch verwandelte seine Gedanken in schwarze Druckschrift, und wenige Tage später las ich den Namen meines Vaters in der Zeitung. Manchmal sprachen mich Mitschüler, neulich auch die Verkäuferin von Schräge Hüte , auf seine Artikel an. Die Apothekerin mit der randlosen Brille breitete die Zeitung sogar auf der Glasablage aus, und ich durfte mir mehr Pullmoll-Bonbons als sonst aus dem Drehspender nehmen. Früher konnte ich den Beruf oder vielmehr die Berufe meines Vaters nicht richtig aufzählen: Kunstkritiker, Kurator, Kulturwissenschaftler. »Tipper« hatte ich einmal gesagt, weil das dem, was ich von seiner Arbeit mitbekam, am ehesten entsprach, aber alle in der Klasse hatten angefangen zu lachen. Rolf schrie: »Tripper, ha ha«, und Melanie meinte: »Mensch, ist dein Vater ’ne Tippse oder was?«
Tröstlich war nur, dass Isa den Beruf ihres Vaters auch nicht aussprechen konnte. Der war nämlich Haftanstaltspsychiater. Eine Deutschlehrerin, die nicht viel älter aussah als wir und nicht Frau Klott, sondern Ellen genannt werden wollte, fragte uns endlich einmal nicht danach, was unsere Väter machten, sondern welchem Beruf unsere Eltern nachgingen. »Anwältin!«, rief Isa, »Bücher-Übersetzerin« ic h – und wir ließen die merkwürdigen Berufe unserer Väter, mit denen wir uns immer blamierten, lieber weg.
Jetzt war es schon wieder zwei Uhr nachts. Ich war erschöpft, aber die Gedanken kribbelten mir wie Ameisen im Kopf. Ich starrte eine Weile an die Zimmerdecke, dann schaltete ich das Radio ein. »Gottlieb Wendehals alias Werner Böhm ist in der närrischen Session 1981/82 die unangefochtene Nummer Eins mit der Polonäse
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