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Haut

Haut

Titel: Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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der Mendips hinauf und in die Quantocks. Er lässt die Fenster der Städte im Norden der Grafschaft glitzern und kriecht in den Wagen auf dem Parkplatz des Leichenschauhauses, wo Jack Caffery den Schlüssel ins Zündschloss schiebt. Er findet Flea Marley auf einem Hügel, wo sie zusieht, wie Rauch in die Höhe steigt. Und zehn Meilen weiter östlich, in einer ganz anderen Umgebung, verweilt er in einem einsamen grauen Haus. Das Haus steht abseits einer stillen Landstraße, umgeben von brachliegenden Feldern, Scheunen und Schuppen und einem nicht mehr benutzten Swimmingpool. Das Mondlicht betastet die Fenster des eingeschossigen Anbaus und versucht erfolglos, an den Hohlblocksteinen vorbei in das speziell eingerichtete Zimmer zu gelangen.
    Drinnen hat das Licht eine andere Farbe. Es ist ein unirdischer blauer Schein, der aus sieben Spezialkühlschränken fällt. Alle sieben Türen stehen offen, sodass der Inhalt sichtbar ist: Stapel um Stapel sorgfältig katalogisierter Behälter, allesamt randvoll mit Formalin.
    Der Mann sitzt mit gekreuzten Beinen da, fast wie in einer Yogastellung, mitten im Raum auf dem Boden. Er ist splitternackt und lässt sich von dem beruhigenden Licht der Kühlschränke einlullen. Niemals wird er die ausgespannte Haut einer Frau auf seiner Werkbank sehen. Das ist ihm klar. Seit Jahren ist es ihm klar. Es gehört ins Reich der Phantasie.
    Aber seine Sammlung... Seine Sammlung ist seine Realität. Sie begann als kleines Zugeständnis an die Phantasie, aber darüber ist sie hinausgewachsen. Sie ist mehr, viel mehr. Sie ist sein Lebenswerk. Sie ist der Grund, weshalb er weiteratmet. Er wird sie um jeden Preis beschützen. Alles wird er dafür tun, sogar töten.
    Jäh steigt ein Bild vor seinen Augen auf; er sieht das fotografische Abbild eines Gesichts auf einer fahrbaren Trage im Krankenhaus. Die Patientin steht unter Narkose, aber als der Wagen verschwindet, geschieht etwas - etwas, das die Pfleger zu beiden Seiten nicht bemerken. Der Kopf der Patientin kippt nach hinten, er zuckt ein wenig, und plötzlich schlägt sie die Augen auf. Sie ist wach. Wach und aufmerksam, und sie sieht alles. Alles.
    Er lässt sein Gesicht in die Hände sinken und konzentriert sich.
    »Sschh.« Seine Stimme ist sanft. Ein Flüstern. Als beruhigte er ein Kind. »Sschh. Es ist okay. Alles okay.«
    Etwas ist schiefgegangen, aber er hat es in Ordnung gebracht. Er hat es hinter sich. Jetzt muss er nur Ruhe bewahren und auf sich selbst vertrauen.
    »Sssschh...«
    So bleibt er noch eine Weile sitzen.
    Dann springt er gereizt auf, läuft im Zimmer umher und schlägt die Kühlschranktüren zu. Er hasst dieses Leben. Er hasst es.
     

16
    Am nächsten Morgen zog eine Tiefdruckfront vom Atlantik heran. Wolken verhüllten die Mendips, und in den Städten fielen heftige Regenschauer und brachten die Gullys zum Überlaufen. Der Verkehr auf den Autobahnen ließ schmutziges Wasser aufspritzen. Im Steinbruch Nummer zwei, fast am Ende der Steinbrüche von Elf's Grotto, drang kein Licht ins Wasser - als wäre es vorzeitig Abend geworden. Flea musste die Salvo-Tauchlampe mitnehmen.
    »Was ist das nur mit Ihnen, Sarge?« Wellards Stimme drang laut an ihr Ohr. »Sie haben schon wieder Publikum. Wieder die Verkehrsstreife und sogar zwei Kriminalbeamte, glaube ich.«
    Sie sah nach der Ankerleine, orientierte sich und fing an zu schwimmen.
    »Ich glaube, die stehen auf Sie, Sarge. Aber nein, wahrscheinlich nicht auf Sie. Auf mich. Ich hab die schöneren Augen.«
    »Ziehen Sie an der Leitung.«
    »Hä?«
    »Sie sollen an der Scheißleitung ziehen.«
    »Okay, okay.« Hastig zog Wellard an der Nabelschnur. Die Leitung zerrte an ihrer Brust. »Alles klar?«
    »Alles klar.«
    Er schwieg kurz und sagte dann: »Sind wohl wieder ein bisschen hormongesteuert, was, Sarge?«
    »Reden Sie nicht. Ich konzentriere mich.«
    Sie hatte die halbe Nacht gewartet, aber Thom hatte nicht angerufen. Jetzt war sie sauer. Stinksauer sogar. Sie fragte sich, wie lange sie da noch mitspielen wollte, bevor sie aufgab und ihn den Löwen zum Fraß vorwarf.
    »Ist wirklich alles okay?«
    »Natürlich ist alles okay. Jetzt halten Sie den Mund, und geben Sie mir noch ein Bar.«
    Seit dem Unfall mit der Nabelschnur war sie zum ersten Mal wieder im Wasser, und die Sicherheitsaufsicht würde einen Anfall bekommen, wenn sie wüsste, wie wenig sie vor diesem Einsatz geschlafen hatte. Immer wieder dachte sie an die Halluzination. Der Steinbruch lag am Ende der hufeisenförmigen

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