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Haut

Haut

Titel: Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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konnte die Leiche nicht einfrieren und wieder auftauen; ein solcher Vorgang hinterließ Spuren, die ein guter Rechtsmediziner sofort erkennen würde, wie etwa die von Eiskristallen in den Muskeln, vor allem im Herzen. Trotzdem musste die Verwesung irgendwie verlangsamt werden.
    Sie stöpselte die riesige Gefriertruhe in der Ecke ein. Das Gerät war seit Jahren nicht mehr benutzt worden - nicht seit dem Tag, als Dad die Familie zum Stromzähler geführt hatte, wo sie alle ehrfurchtsvoll zusahen, wie das kleine rote Rädchen schwirrte, wenn die Truhe eingeschaltet war, und wie langsam es lief, wenn man sie abstellte. Das Ding war ein Stromfresser.
    Danach hatten sie es nur noch für Partys und im Hochsommer verwendet, wenn Mum Eiscreme machte. Flea füllte die Eiswürfelschalen mit Wasser und stellte sie übereinander auf das Rautenmuster des Aluminiumbodens. Sie klappte die Truhe zu, riss die Eisbeutel mit den Zähnen auf und kippte das Eis in die alte Eisenwanne, die in der Ecke zwischen Rasenmähern und Taucherausrüstungen stand.
    Als sie den Kofferraum wieder öffnete, wurde der Gestank überwältigend. Ohne Atemgerät, nur mit der Maske vor dem Gesicht, musste sie sich einen Augenblick lang abwenden und ein paarmal tief durchatmen, um den übermächtigen Würgereflex zu unterdrücken. Als ihre Kehle sich nicht mehr krampfhaft zusammenzog, machte sie sich an die Arbeit. Der Anzug raschelte wie trockenes Laub.
    Sie packte den Inhalt von Mistys Handtasche in einen grünen Plastikbeutel und verschluss ihn. Dann nahm sie die hintere Ablage aus dem Focus und klappte die Rücksitzlehne herunter. Auf dem Boden vor den Hinterrädern breitete sie eine Plastikplane aus, legte eine zweite unter die Stoßstange, faltete den oberen Rand in den Kofferraum und stopfte ihn unter Mistys linke Schulter und das linke Knie. Dann kletterte sie auf den Rücksitz, beugte sich vor, schob zwei Webgurte unter Mistys Schultern und Hüften und stieg wieder aus, ging zum Kofferraum und zog die heraushängenden Enden der beiden Gurte herunter. Sie legte sie auf die Plastikplane am Boden, stellte sich mit beiden Füßen darauf, beugte sich über die Leiche und packte die beiden anderen Enden. Sie holte tief Luft und fing an zu ziehen.
    Einen Moment lang gaschah gar nichts, doch dann löste die Leiche sich mit einem reißenden Geräusch vom Kofferraumteppich und rollte auf die Seite, sodass Mistys Gesicht auf der hinteren Stoßstange ruhte. Flea schob die Knie unter sie, damit sie nicht auf den Boden fiel, und atmete einige Male tief durch.
    Mistys Hinterkopf war blutverkrustet, und jetzt sah Flea auch, was sie getötet hatte: ein wuchtiger Schlag an der linken Schädelseite, wo sie auf das Autodach geprallt war. Sie erkannte sämtliche Details des Ohrs, das dabei vom Kopf abgerissen wurde, alle Fältchen, Furchen und Kanäle, und plötzlich sah sie vor sich, wie sie vor Jahren entstanden waren - eine schwindelerregende Diashow: ein Baby, das langsam Gestalt annahm, geboren wurde, heranwuchs die Milchzähne verlor, Kniestrümpfe bekam und aufgeschürfte Knie hatte. Sie sah den ersten Lippenstift, den ersten Freund, den ersten Liebeskummer. Sie sah Drogen, Alkohol und Diäten. Das alles sah sie so klar wie ihre eigene Vergangenheit, und obwohl sie wusste, wer Misty war und dass sie sich nichts zu sagen gehabt hätten, wenn sie einander im Leben begegnet wären, stieg in ihr ein Gefühl von Kälte und Einsamkeit auf.
    Sie drehte den Kopf zur Seite und atmete stoßweise. »Aufhören«, zischte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Aufhören.« Sie drehte den Hals hin und her, um den Schweiß von ihrer Schulter zu entfernen. Noch nie war sie bei einer Leichenbergung ausgerastet, und sie würde es auch jetzt nicht tun.
    »Okay.« Ihr Blick wanderte zurück zu Mistys zerfetzter Kopfhaut, zu ihrem dichten blonden Haar. »Es tut mir leid - es tut mir leid, dass ich das auf diese Weise erledigen muss. Bitte glaub mir.«
    Sie wartete einen Augenblick, als würde Misty ihr antworten. Stöhnend vor Anstrengung, wuchtete sie die Leiche dann langsam auf die Plastikplane. Normalerweise tat sie das mit drei anderen Leuten zusammen, aber Misty war leicht und ließ sich mühelos rollen. Ihr rechter Arm fiel vom Gesicht herunter zur Seite. Flea stützte keuchend die Hände auf die Knie und betrachtete sie eine Zeit lang. Misty war so stark aufgedunsen, dass selbst ihre Mutter sie nicht mehr erkannt hätte, von den Revolverblättern und den Fans ganz zu schweigen.

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