Hautnah
Er gab ihr den Schlüssel zurück, und sie war erleichtert. »Aber halten Sie Ausschau nach dem Kfz-Mechaniker. Ich habe ihm gesagt, er soll sich nach einer hübschen Lady mit einem stattlichen jungen Mann umsehen. Wenn Sie sich im Wagen verstecken, findet er Sie am Ende nicht.«
»Mach ich.« Lara setzte Jack auf den Beifahrersitz, dann ging sie um den Wagen herum zur Fahrerseite. »Vielen Dank noch mal«, sagte sie und stieg ein.
»War mir ein Vergnügen. Gehört zum Service.«
Erleichtert zog Lara die Wagentür hinter sich zu, drückte auf den Knopf für die Zentralverriegelung und ließ den Motor an, damit sie und Jack sich ein wenig abkühlen konnten. Im Seitenspiegel sah sie, wie der Wachmann ihren leeren Einkaufswagen zurück Richtung Supermarkt schob. Kurz bevor er im Gebäude verschwand, drehte er sich noch einmal um und grüßte, als hätte er gewusst, dass sie ihn beobachtete.
Dreister Kerl, dachte sie. Aber etwas ließ ihr keine Ruhe. Es war über zwei Stunden her, dass sie den Wagen geparkt hatte. Und die Kühltruhe, von der er behauptet hatte, dass sie nach Ausschalten des Motors eine Stunde weiterlief, war immer noch in Betrieb.
6
D ie neuen Reifen kosteten sie fast achthundert Dollar, weil sie exakt dieselben Modelle nehmen musste wie die, die ursprünglich am Wagen gewesen waren, und die lagen, wie nicht anders zu erwarten, im oberen Preissegment. Dies bedeutete auch, dass der Mechaniker erst zurück in die Werkstatt fahren musste, um die Reifen zu holen, wodurch die Reparatur fast den gesamten Nachmittag in Anspruch nahm. Sie rief Marcus auf der Festnetznummer des Hauses an und berichtete ihm, was passiert war.
»Scheiße«, sagte er.
»Ich weiß noch nicht genau, wann ich zurück bin«, erklärte sie. »Das dauert alles ewig. Und es ist nichts zu essen im Haus.«
»Mach dir keine Sorgen, ich habe hier alles im Griff. Wenn du wiederkommst, wartet ein leckeres Essen auf dich.«
Wow, dachte sie. Das wäre ja mal was ganz Neues.
Sie brauchte lange, um den Weg aus der Stadt zu finden. Als sie sich endlich auf der unbekannten menschenleeren Landstraße wiederfand, war Jack eingeschlafen, und es war später Nachmittag.
Sie war nicht gern allein mit der Natur, nicht einmal im Schutz ihres großen Wagens. Ihre Fantasie hatte die lästige Angewohnheit, Blüten zu treiben. Jedes Mal, wenn sie um eine Kurve bog, rechnete sie damit, dahinter eine widerliche alte Hexe am Straßenrand stehen zu sehen, die ihr einen Fluch entgegenschleuderte. Bei jedem Blick in den Rückspiegel hatte sie Angst, in die vor Wahnsinn funkelnden Augen einer Gestalt zu blicken, die hinter ihr auf dem Rücksitz saß und ihr irgendetwas Schreckliches antun wollte.
Sie hatte die Stadt bereits ein gutes Stück hinter sich gelassen, als plötzlich ein graubraunes Auto mit röhrendem Motor hinter ihr auftauchte, das auf einer besonders kurvenreichen Teilstrecke der Landstraße direkt an ihrer Stoßstange klebte. Als der Fahrer endlich zum Überholen ansetzte, wobei er aufblendete, hupte und sich sogar die Mühe machte, das Fenster herunterzukurbeln und ihr den erhobenen Mittelfinger entgegenzustrecken, war Lara bereits voll im Kampf-oder-Flucht-Modus. Ihre Handflächen waren schweißnass, ihr Herz raste. Erst jetzt konnte sie sehen, dass es sich bei dem Fahrer um eine Frau handelte.
»Blöde Kuh«, knurrte sie ihr hinterher, einfach nur, um sich selbst Mut zu machen.
Sie zwang ihre Atmung zur Ruhe und versuchte, nicht daran zu denken, was in den dicht bewaldeten Hügeln um sie herum so alles vor sich ging. Das fremde Auto hätte sie von der Straße abdrängen können, und niemand hätte je davon erfahren, bis man sie irgendwann Jahre später gefunden hätte, ein ausgedörrtes Gerippe, der rostende Chevy von Schlingpflanzen überwuchert.
Als sie endlich Trout Island erreicht hatte und am Friedhof vorbeifuhr, beschloss sie, Marcus gegenüber die Rechnung für die Reifen nicht zu erwähnen. Sollte er nachfragen, würde sie behaupten, sie hätte hundert Dollar bezahlt. Auch das würde er schon als unverschämt teuer empfinden, aber es war lange nicht so schlimm wie der tatsächliche Betrag, der eine ganze Woche grüblerischer Schweigsamkeit nach sich ziehen würde.
Glücklicherweise ging Marcus’ Abneigung gegen alles Finanzielle so weit, dass er es nicht einmal über sich brachte, die Briefumschläge mit ihren Kontoauszügen und Kreditkartenrechnungen zu öffnen. Die Verwaltung des Geldes oblag allein ihr, und sie sah es als
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