Hautnah
ihre Pflicht an, ihn vor den schmerzhafteren Wahrheiten zu schützen, indem sie gelegentlich ein wenig untertrieb.
Sie bog in die Einfahrt des Hauses ein. Wenn man es durch halbgeschlossene Augen betrachtete, bekam man noch eine Ahnung davon, wie eindrucksvoll es früher einmal ausgesehen haben musste. Leider zeigten der zugewucherte Vorgarten und der triste Teerplatz hinten nur allzu deutlich, dass diese Zeiten lange vorbei waren.
Sie hob Jack aus dem Kindersitz und trug ihn die wackligen Verandastufen zum Hintereingang hinauf. An der Küchentür hing ein Zettel, auf dem – in einer Handschrift, die so verschnörkelt war, dass sie nur von James stammen konnte – stand, dass das Gas nunmehr repariert sei.
Im Haus regte sich nichts. »Hallo?«, rief sie und trug Jack ins Wohnzimmer, wo sie ihn aufs Sofa bettete.
Keine Antwort.
»›Ich habe alles im Griff‹«, knurrte Lara, als sie zurück nach draußen ging, um die Einkäufe hereinzutragen. »›Ein leckeres Essen wartet auf dich‹. Von wegen.«
Manchmal brachte Marcus sie zur Weißglut.
Obendrein war sie so müde, dass sie sich kaum noch bewegen konnte.
Sie musste fünfmal laufen, bis sie alles ins Haus geschafft hatte. Die Sachen, die kühl gestellt werden mussten, legte sie mitsamt den Einkaufstüten in den Kühlschrank, den sie, so hatte sie sich vorgenommen, am nächsten Morgen saubermachen würde. Die Schränke waren ebenfalls völlig verdreckt, also ließ sie die restlichen Einkaufstüten auf dem Küchentresen stehen. Sie war gerade im Begriff, sich eine Flasche Rotwein aufzumachen und von einem Everything-Bagel mit Sesam, Mohn, Zwiebeln und Knoblauch abzubeißen, als sie auf der vorderen Veranda Schritte und dann das Zuschnappen der Fliegengittertür hörte.
»Hallo? Müde Reisende?«, rief Marcus laut. »Wir bringen Nahrung.«
Gleich darauf tauchten er, Olly und Bella in der Küche auf. Jeder von ihnen trug eine Pizzaschachtel vor sich her, die fast so breit war wie Bella hoch.
»Wein gibt es auch!«, dröhnte Marcus, der die Flasche neben Lara erspäht hatte. »Und unser Auto hat wieder Luft. Das Leben meint es gut mit uns!«
Sie aßen Pizza, bis sie sich kaum noch rühren konnten, und schauten sich eine DVD mit dem Film Schenectady, New York auf Laras Laptop an. Niemand konnte der Handlung folgen außer Olly, der seine Familie für ihre mangelnden intellektuellen Fähigkeiten mit beißendem Spott überschüttete. Jack rollte sich neben Lara zusammen und schlief ein.
»Schlafenszeit für alle«, verkündete Lara, als Marcus Jack die Treppe hinauftrug. Olly erhob sich seufzend, aber Bella blieb noch sitzen.
»Mum«, sagte sie, sobald Ollys schwere Schritte ganz oben auf der Treppe angekommen waren. »Olly ist richtig fies zu mir.«
»Immer noch?«, fragte Lara, während sie die leeren Pizzaschachteln zusammenfaltete, wobei sie achtgab, dass nicht allzu viele fettige Krümel auf den Boden fielen. »Gib mir mal das Glas da, ja?«
»Er nervt mich die ganze Zeit wegen Jonny. Dabei …« Bella stand auf der Schwelle zum Wohnzimmer und knetete ihre Hände. Ihre Wangen waren gerötet.
»Na ja, es hat ihm eben viel bedeutet, dass du mit seinem besten Freund zusammen warst«, sagte Lara, die damit beschäftigt war, die Spuren des schmierigen Festmahls zu beseitigen. »Er wird schon darüber hinwegkommen. Na los, steh nicht einfach nur so rum, Bella. Räum die Teller zusammen, ja?«
Seufzend knallte Bella die Teller aufeinander, trug sie in die Küche und stellte sie neben die Spüle.
»Ich weiß, dass Olly manchmal nervig sein kann«, gab Lara zu und nahm ihre Tochter bei den Händen. »Aber nur, weil er dich liebhat.«
»Ach, was soll das Ganze überhaupt? Du kapierst es ja eh nicht«, entgegnete Bella und machte sich los. »Ich geh ins Bett.« Sie stapfte ins Wohnzimmer, gab der Tür einen Stoß, als hege sie einen persönlichen Groll gegen sie, dann floh sie durch den Flur und unter lautem Gepolter die Treppe hinauf.
Teenager, dachte Lara in der Stille, die auf Bellas Abgang folgte. Da macht man was mit.
Dann nahm sie sich den Abwasch vor.
Als Lara zurück nach unten kam, nachdem sie den Kindern einen Gutenachtkuss gegeben hatte – ein Ritual, an dem sie festhielt, egal wie sehr ihre Ältesten auch darauf pochten, dass es weder notwendig noch erwünscht sei –, fand sie Marcus rauchend auf der Hollywoodschaukel vor. Zu seinen Füßen standen eine zweite Flasche Wein und zwei Gläser. Sie setzte sich neben ihn.
»So lässt es
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