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Hautnah

Hautnah

Titel: Hautnah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Crouch
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    Draußen auf der Anschlagtafel klebte eine größere Version des hässlichen Musicalplakats. Bella sah auf ihre Armbanduhr. Die war immer noch auf britische Zeit eingestellt, weshalb sie ein bisschen nachrechnen musste, bevor sie heraushatte, dass ihnen exakt zwei Stunden blieben, bis die Premiere anfing.
    »Klingt, als wär’s totaler Mist«, sagte sie an Jack gewandt.
    »Totaler Mist«, wiederholte er glucksend.
    »Pass auf, was du sagst, junger Mann. Willst du dich in den Wagen setzen?«
    »Nein«, protestierte Jack. »Ich will meinen Eislolli.«
    In gemächlichem Tempo machten sie sich auf die Suche, wobei sie vor jeder Ameise und jeder Grille, die ihren Weg kreuzte, stehen blieben, um sie ganz genau in Augenschein zu nehmen. Irgendwann kamen sie an die wie üblich völlig ausgestorbene Main Street. Links von ihnen war eine kleine Feuerwache. Bella fragte sich, ob deren Nähe zum Theater einen Einfluss auf das Thema des Musicals gehabt hatte. Bemannt wurde die Wache, wie ein Hinweisschild offenbarte, von Freiwilligen aus der Kommune Trout Island, allerdings schien im Moment niemand im Dienst zu sein. Bella stellte sich vor, wie die Leute, wenn es irgendwann mal einen echten Feueralarm gab, aus allen Häusern gestürzt kommen würden. Sie würden sich gelbe Jacken anziehen, gelbe Helme überstülpen und sich ihre Spitzhacken oder andere lebensrettende Gerätschaften über die Schulter schwingen. Wie im Film.
    Obwohl keine Autos zu sehen waren, beschloss Bella, die Straße an einem Zebrastreifen zu überqueren. Dieser befand sich vor einer Schindelholzkirche, auf deren Infotafel in Steckbuchstaben aus Plastik geschrieben stand: Zum Himmelreich nehme den rechten Weg, und weiche nicht von ihm ab.
    Alles klar, dachte Bella, nahm Jack an der Hand und machte einen Schritt auf die Fahrbahn. Da kam plötzlich wie aus dem Nichts ein graubraunes Auto angeschossen. Vielleicht lag es daran, dass es eine ähnliche Farbe hatte wie der Straßenbelag, oder Bella hatte wegen des andauernden elektrischen Summtons der Zikaden den Motor nicht gehört, jedenfalls bemerkte sie den Wagen erst, als sie bereits auf der Straße waren. Im festen Glauben, dass er anhalten würde – schließlich befanden sie sich auf einem Zebrastreifen –, ging sie mit Jack zusammen weiter, doch der Fahrer hupte bloß und machte keinerlei Anstalten, seine Geschwindigkeit zu drosseln. Bella konnte ihren kleinen Bruder gerade noch rechtzeitig aus dem Weg ziehen.
    Der Fahrer, der hinter den getönten Scheiben nicht zu erkennen war, kurbelte das Fenster so weit herunter, dass er seinen Arm hindurchstrecken konnte. Er hielt ihr den ausgestreckten Mittelfinger entgegen und rief: »Arschloch!«, bevor er davonbrauste. Die Stimme hatte heiser geklungen – höchstwahrscheinlich von zu vielen Zigaretten –, aber es war ganz eindeutig die Stimme einer Frau gewesen.
    »Du meine Güte«, sagte Bella. »Alles in Ordnung mit dir, Jack?«
    Jack nickte stumm.
    »Vielleicht bedeuten Zebrastreifen hier nicht dasselbe wie bei uns.«
    Diesmal sah sie in beide Richtungen, bevor sie mit ihrem Bruder die Straße überquerte und sie die steilen Stufen zum Gehweg hinaufstiegen, der gute anderthalb Meter höher lag als auf der anderen Seite.
    Das Pflaster war bucklig und voller Risse von den Wurzeln der riesigen Bäume in den Vorgärten entlang der Straße. Bella war froh, dass Jack zu laufen beschlossen hatte und sie ihn nicht im Buggy über den holprigen Gehweg schieben musste. Sie hielt ihren Bruder fest an der Hand, damit er nicht hinfiel.
    Sie kamen an der Bücherei und an mehreren Trödelläden vorbei, von denen einer ein paar ganz interessante Secondhandkleider im Angebot zu haben schien. Bella merkte sich den Laden, um bei Gelegenheit noch mal vorbeizuschauen, vielleicht zusammen mit ihrer Mutter. Ein Stück die Straße runter kam noch ein weiterer, ziemlich finster aussehender Laden mit einem stümperhaft gemalten Schild, auf dem »Kommissionsverkauf« stand – was auch immer das bedeuten sollte. Auf der Veranda des Ladens standen mehrere Lauflernhilfen für Babys, ein angeschmuddelter Laufstall und ein jämmerlich aussehendes Spielhäuschen. Die Sachen waren so alt und abgenutzt, dass sie Jack nicht mal eine Sekunde lang von seiner Mission Eislolli ablenken konnten.
    Bella prägte sich für ihr geplantes Foto-Essay über Trout Island alles ganz genau ein. Zu dumm, dass sie ihre Kamera nicht mitgenommen hatte. Ihr Haus lag nah genug, um zurückzulaufen und

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