Hautnah
Bier. Ihr Zuhause und alles, was sie damit verband, kamen ihr so weit weg vor. Erst recht, wenn man es nur als winziges Satellitenfoto auf einem Bildschirm sah. Bei diesem Gedanken fühlte sie sich plötzlich unglaublich befreit. Wenn Olly nicht gewesen wäre …
Auch Sean lehnte sich zurück, so dass sie einander wieder ganz nahe waren. Als er sich bewegte, erhaschte Bella seinen Duft, eine Mischung aus Seife, Schwimmbad und noch irgendetwas anderem, so ähnlich wie frischer Schweiß, aber kein bisschen unangenehm.
»Soll ich dich rumführen?«, fragte er. »Das Grundstück von James und Betty ist ziemlich cool.«
Er sprang auf und streckte ihr die Hand hin, um ihr hochzuhelfen. Er hielt sie fest, als sie über den Rasen schlenderten, vorbei an acht kleinen, schachbrettartig angelegten Gemüse- und Blumenbeeten. Chinesische Laternen auf Stäben tanzten im Wind und beleuchteten einen Pfad zwischen den Beeten. Als sie im Vorübergehen die Pflanzen streiften, stieg der vertraute Geruch von Basilikum in die Luft, nur um im nächsten Moment von der schweren Süße pinkfarbener und roter Rosen abgelöst zu werden. Das Stimmengewirr der Partygäste wurde im gleichen Maße leiser, wie die Liebesgesänge der Grillen auf der Wiese vor ihnen lauter wurden.
Die Laternen führten bis hinunter zu einem großen Teich und um dessen Ufer herum. Das Wasser schien im Licht des frühen Abends zu brodeln. Auf der gegenüberliegenden Seite stand eine überdachte Bank, die aus der aufrecht in der Erde stehenden Hälfte eines hölzernen Ruderboots gebaut worden war. Bella schaute zum Höhenzug jenseits des Gartens hinüber. Die Umrisse der Hügel wurden von einem sanften orangefarbenen Licht erhellt, die letzte Handlung der Sonne an diesem Tag. Der Mond stand bereits hinter dem Haus, und die drei Lichtquellen – die untergehende Sonne, der Mond und die Laternen – hoben die Umrisse der Dinge schärfer hervor und ließen sie wirklicher als wirklich erscheinen, so ähnlich wie auf dem Salvador-Dalí-Poster, das sie zu Hause mit Patafix an die Wand ihres Zimmers geklebt hatte.
»Das Licht ist wunderschön«, sagte sie.
»Wunderschön.« Sean blieb stehen und sah sie an.
Dann zuckte Bella zusammen, als vom Teich her plötzlich ein merkwürdiger Laut erscholl, so als würde ein Geist auf alten Dielenbrettern herumspringen. Der Lärm wurde lauter und lauter, und weitere, ganz ähnliche Geräusche gesellten sich dazu, bis schließlich die Grillen nicht mehr zu hören waren. Es klang, als stürzte die alte Scheune in sich zusammen.
»O mein Gott, was ist das denn?«, rief sie und drehte sich, die Hände auf den Ohren, zu ihm um.
»Das sind bloß Ochsenfrösche.« Sean lachte. »Komm, wir können sie uns anschauen.«
Vorsichtig gingen sie bis ans Ufer des Teichs.
»Da, siehst du?«, flüsterte er, hockte sich hin und zeigte auf etwas.
Bella reckte sich vor, und sobald ihre Augen sich an das Graugrünbraun des Wassers gewöhnt hatten, entdeckte sie einen Frosch, dann noch einen und noch einen. Einige saßen auf Seerosenblättern oder Steinen, von anderen waren nur die Köpfe zu sehen, die mit ihren aufgeblähten Schallblasen aus dem Wasser ragten.
»Ein Froschchor«, sagte sie.
Sie sahen sich an, und diesmal hielt Bella Seans Blick stand. Seit einer halben Stunde war ihr Inneres kurz davor, sich nach außen zu krempeln, und jetzt war es tatsächlich so weit. Sie konnte nicht atmen. In dem seltsamen Licht hatte seine Iris die Farbe von Vergissmeinnicht mit dunklen Sprenkeln, die sie immer stärker in ihren Bann zogen, bis sie das Gefühl hatte, hypnotisiert zu sein, wie das Kaninchen vor der Schlange. Er kam ihr näher und näher, und sie schloss die Augen.
»Sean, alter Kumpel! Mach nichts, was ich nicht auch machen würde!«
Sie fuhren auseinander und sahen zur Bootsbank am anderen Ufer des Teichs hinüber, wo die Stimme hergekommen war. Im Schein einer beim Anzünden aufglimmenden Zigarettenspitze konnte Bella einen Mann erkennen. Er sah aus wie ein Italiener, und sie schätzte, dass er ziemlich alt sein musste, auf jeden Fall über dreißig. Sie erkannte ihn als einen der Darsteller aus dem Musical wieder.
»Hey, Tony, du Wichser, was soll das? Spionierst du mir nach oder was?«, rief Sean zurück. Er klang wie eine vollkommen andere Person.
»Immer locker bleiben, Mann.« Tony streckte die Beine aus, so dass sie unter der Überdachung des Boots hervorragten. »Macht ihr Kids einfach euer Ding. Beachtet mich gar nicht
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