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Havelwasser (German Edition)

Havelwasser (German Edition)

Titel: Havelwasser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
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schnell weiter, zu dem Zettel, den ihm der Direktor des Hermann-Hesse-Gymnasiums zugesteckt und der ihm in der letzten Nacht einen unruhigen Schlaf eingebracht hatte. Er hatte Angst um seine Töchter.
    Am Steintorturm bog er nach links ab und blieb an der Schleuse stehen. Vier Motorboote wurden gerade angehoben, und der Schleusenwärter winkte ihm lässig zu. Manzetti sah auf die Boote und las deren Namen. „Schöne Susi“ und „Lucie“ konnte er entziffern. Die beiden anderen Namen waren von Fendern teilweise verdeckt. Anhand der Namen erkannte er die Boote manchmal wieder, wenn er ihnen auf dem Beetzsee oder dem Breitling begegnete. Als der Schleusenwärter die schwere Metallwand hochzog und die Boote freigab, überlegte Manzetti kurzzeitig, ob er sich besser krankmelden und mit seinem alten Holzboot für einige Stunden das Weite suchen sollte, um dann klarer zu sehen. Er ging aber weiter und vertagte sein Vorhaben.
    In der Direktion suchte er Sonja und fand sie in der Kantine. Sie saß mit verheulten Augen allein an einem Tisch, und vor ihr standen fünf Plastebecher, die ehemals heißen Kaffee beherbergten.
    „Was ist los?“, fragte er.
    „Er ist weg“, antwortete Sonja und schnaubte in ein Taschentuch.
    „Wer? Wer ist weg?“
    „Oliver.“ Sie brach beim Aussprechen des Namens in ein ohrenbetäubendes Geheul aus, und jeder Fremde hätte vermutet, dass sie in den nächsten Sekunden in eine tiefe suizidale Depression verfallen würde. Aber Manzetti besaß genügend Erfahrungen mit vergleichbaren Situationen und blieb ausgesprochen ruhig.
    „Sonja, das wird schon wieder.“
    Wie eine Sirene, die mit tiefen Tönen begann und in schrillsten auslief, jammerte sie ihm ein lang gezogenes „NEIN“ entgegen.
    „Am besten gehst du für heute nach Hause. Wir sehen uns dann morgen früh in alter Frische.“
    Sonja stand von ihrem Stuhl auf und verließ mit gesenktem Kopf die Kantine. „Mein Bericht liegt bei Frau Freitag“, heulte sie ihm noch zu, ohne auch nur für kurze Zeit ihr Schluchzen zu unterbrechen.
    Zwei Etagen höher drückte Frau Freitag Manzetti die drei Seiten in die Hand und fragte dann besorgt: „Was hat sie?“
    „Oliver“, lautete seine nüchterne Antwort.
    „Ach so. Ich dachte, es wäre was Ernstes“, urteilte die Sekretärin und blätterte wieder in ihren Unterlagen.
    Jeder in der Direktion wusste, dass Oliver einmal im Vierteljahr auszog, um regelmäßig am nächsten Abend wieder zurückzukommen. Auch die Ausläufer dieses Ereignisses wiederholten sich, mit gleicher Intensität, Dauer und Lautstärke. Sie begannen immer in der Kantine, verlagerten sich über den unteren Flur und endeten wieder in der Kantine in jenem Dienstfrei, das Manzetti Sonja dann einräumte.
    In seinem Büro las er den Bericht über Pfarrer Weinrich nur quer. Wenn Oliver schon gestern ausgezogen war, dann hatte sich nach aller Erfahrung der Streit schon am Tag zuvor abgespielt, und Sonja war also zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr bei der Sache gewesen. Genau das fand er durch die Qualität des Berichts bestätigt.
    In großen Etappen hatte sie dort aufgeführt, dass der Pfarrer irgendwann und irgendwo geboren worden war, welche Schulbildung er bekommen hatte und dass er im Alter von zwanzig Jahren einem Priesterseminar in Cochem an der Mosel beigetreten war. Er überflog die Darstellung des weiteren Lebensweges, der kaum brauchbare Informationen enthielt, und las schließlich die letzten drei Sätze mit der Kernaussage, dass der Pfarrer im Alter von achtunddreißig Jahren ermordet aus der Havel gefischt worden war.
    Manzetti musste sich also selbst darum kümmern. Er wollte gerade zum Telefon greifen, um sich einen Fahrer zu organisieren, der ihn an die letzte Wirkungsstätte des Geistlichen bringen sollte, als sein Handy klingelte.
    „Ja, bitte.“
    „Manzetti, wo sind Sie?“
    „In meinem Büro, warum?“
    „Dann bis gleich. Ich ruf Sie übers Festnetz an, das ist günstiger.“ Bremer war offensichtlich sehr kostenbewusst. Es dauerte nicht lange, bis Manzettis Telefonapparat klingelte.
    „Manzetti, ich habe den Penner etwas genauer untersucht. Sie wissen, was ich meine? Der arme Kerl ist jämmerlich draufgegangen.“
    „Sie machen mich neugierig. Aber ich vermute, dass es an einer Überdosis lag, oder?“
    „Genau. Nur passt die nicht in sein Milieu, mein Lieber. Der hatte Eins-a-Koks im Blut, und die Spritze, die Sie mir mitgereicht hatten, enthielt dasselbe Zeug.“
    „Dann wäre ja die

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