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Havelwasser (German Edition)

Havelwasser (German Edition)

Titel: Havelwasser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Wiersch
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entschieden?“ Ihre Augen löschten jede Hoffnung auf Vertagung des Themas. Somit zwang sie ihn, wohl oder übel Farbe zu bekennen.
    „Was meinst du, mein Schatz? Sollten wir sie gehen lassen?“ Vor Gericht würden beide Fragen mit dem Sammelbegriff „untauglicher Versuch“ überschrieben. Hier bedurfte es aber keiner erklärenden Definitionen. Kerstins auf der Stirn aufgetürmtes Faltengebirge forderte seine Stellungnahme ein. „Ich habe mich noch nicht entschieden“, beichtete er schließlich und fügte verharmlosend hinzu: „Solche wichtigen Dinge entscheiden wir doch gemeinsam, oder?“
    „Machen wir das, Andrea?“ Kerstin sah ihren Mann an, als wäre der in einem Alter, das zwischen ihren Kindern lag. Sie tat sich schwer: Sollte sie ihm böse sein oder besser über ihn lachen? „Ich kann mich nicht erinnern“, fuhr sie sachlich fort, „dass wir je so gehandelt hätten. Du hast mir alle aus deiner Sicht unangenehmen Entscheidungen überlassen und bist, jedenfalls nach deiner Logik, der gute Vater geblieben, wogegen ich die unpopulären Urteile selbst kundtun musste.“
    „Aber …“, flackerte keimender Widerstand in ihm auf.
    „Kein Aber! Andrea, ich glaube es ist an der Zeit, dass du deinen egoistischen Schutzmantel abwirfst und Verantwortung für deine Tochter übernimmst. Sie ist vierzehn und wird langsam eine richtige kleine Frau.“
    „Das weiß ich doch“, verteidigte er sich. „Ich laufe doch nicht blind durch die Gegend.“
    Kerstin schlug leicht pikiert ein Bein über das andere und lehnte sich zurück, obwohl das Kreuzverhör noch gar nicht begonnen hatte. Noch während sie sich einen weiteren Grappa eingoss, schoss sie die erste Frage auf ihren Mann ab. „Wann war sie das letzte Mal beim Frauenarzt?“
    Er blätterte schnell sein fotografisches Gedächtnis durch und suchte nach den letzten Seiten des Familienkalenders, der in der Küche an der Wand hing. „Vor zwei Wochen“, platzte er mit triumphierender Miene heraus.
    „Da war sie beim Zahnarzt“, konterte sie.
    Er überlegte kurz oder tat jedenfalls so, um sein Lotteriespiel zu übertünchen. „Dann vor vier Wochen.“
    „Du weißt es also nicht“, entlarvte sie ihn trocken und setzte sich ziemlich aufrecht hin. „Andrea, es ist auch deine Tochter, und wir sollten wirklich gemeinsam über das Wohl und hoffentlich nicht Wehe unserer Kinder entscheiden. Dazu gehört auch, dass du Lara nicht ausweichst.“
    „Das habe ich nicht getan“, protestierte er. „Wirklich nicht.“
    Kerstin stand auf und setzte sich neben ihn, ergriff seine im Schoß liegenden Hände und gab ihm jene Zuwendung, die er brauchte, um sich nicht in seine eigenen Gedanken zurückzuziehen und gesprächsbereit zu bleiben.
    „Hast du doch“, sagte sie und erstickte mit ihrem rechten Zeigefinger, den sie ihm auf die Lippen legte, liebevoll jeden Widerspruch. „Du wolltest vor zwei Tagen mit Lara sprechen, aber dann hat das Telefon geklingelt, und es gab keine Zeit mehr. Jedenfalls bis heute Nachmittag nicht, und jetzt bist du mit der Situation überfordert.“
    „Was soll das denn nun wieder heißen?“, fragte er und fühlte sich übermäßig bedrängt.
    „Was das heißen soll?“ Sie führte ihre Hände an seinen Hinterkopf und wartete, bis ihr Fingerspiel bei ihm ein leises Grunzen auslöste. „Du würdest ihr den Partybesuch gerne verbieten, aber dazu fehlt dir der Mut, nicht wahr?“, fragte sie und registrierte das winzige Nicken seines Dickschädels.
    „Dich plagen deine Fantasien, die sich mittlerweile mit den Ängsten um deine Töchter gepaart haben und in deinem Kopf eine unheilvolle Allianz bilden.“
    „Was redest du da, Schatz? Ich allein bin Herr meiner Gedanken“, säuselte er genießerisch mit geschlossenen Augen.
    Kerstin füllte ihm noch einen Grappa ein und erklärte mit einfachen Worten, was sie schon seit Tagen spürte. Sie wusste, dass der Brief, den der Schulleiter ihm in die Hand gedrückt hatte, sofort auch große Sorgen um seine Töchter ausgelöst hatte. Sie kannte ihren Andrea und seinen weichen Kern, den er gern hinter seiner ihm angeborenen südländischen Fassade verbarg. Es gehörte auch nicht viel Kunst des Kaffeesatzlesens dazu, um zu erraten, dass er Lara am liebsten nirgendwo mehr hinließe, bevor er alle Kinderschänder höchstpersönlich hinter Schloss und Riegel gebracht haben würde.
    „Aber du willst sie doch auch nicht zu der Party gehen lassen, oder?“
    „Das wollte ich in der Tat zunächst nicht.

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