Havoc - Verwüstung - Thriller
schloss hinter sich die Haustür und ging schnurstracks in sein Arbeitszimmer im Parterre. Von jener viel zitierten Freude des Nachhausekommens empfand er überhaupt nichts, sondern nur die verhaltene Wut, die in ihm rumorte, seit er Cali hatte in das Regierungsfahrzeug steigen sehen. Er hatte nicht die Absicht, sich in Spekulationen darüber zu ergehen, ehe er sich völlig sicher sein konnte - aber jetzt würde es nur noch wenige Minuten dauern, bis er Bescheid wusste, und alle möglichen Szenarios spulten sich in seinem Geist ab. Keins davon war besonders angenehm.
Er griff nach dem Telefon auf dem Schreibtisch und wählte die Nummer der Auskunft. Er hörte eine weibliche Stimme und wollte nach der Nummer der CDC-Filiale in Atlanta fragen, hielt dann jedoch inne und achtete ein wenig genauer auf das, was die weibliche Stimme sagte.
»Mein Gott, Harry, du bist ja riesig. Ich glaube nicht, dass Chantelle und ich dich glücklich machen können, aber wir wollen es gern versuchen. Du musst uns nur versprechen, ganz vorsichtig zu sein.«
»Was zum …?«
»Du musst wissen, wir sind beide noch Jungfrauen, Harry. Du bist unser erster richtiger Mann.«
»Wer zum Teufel ist da?«, fragte Mercer. Ehe die Frau etwas erwidern konnte, hörte Mercer Schnarchgeräusche in der Leitung. »Verdammter Mistkerl«, murmelte er und unterbrach die Verbindung.
Er ließ die Reisetasche auf dem Schreibtisch stehen und eilte über die Wendeltreppe in den ersten Stock hinauf. Es war genauso, wie er vermutet hatte. Harry White lag ausgestreckt auf einem der Sofas, das schnurlose Telefon auf seiner Brust, die sich im Rhythmus seines Schnarchens hob und senkte. Der Couchtisch in der Nähe war mit so vielen Feuchtigkeitsringen von Whiskeygläsern übersät, dass es so aussah, als hätte tagelang ein Tintenfisch darauf campiert. Der Kristallaschenbecher, der auf der Tischplatte stand, quoll von Zigarettenstummeln über. Harry trug eine abgewetzte Baumwollhose, ein mittlerweile durch unzählige Wäschen angegrautes weißes Oberhemd aus irgendeinem unzerstörbaren Synthetikstoff und dazu dunkle Socken und Turnschuhe. Seine allgegenwärtige Windjacke war über die Lehne eines der Barhocker drapiert. Aus einer Tasche schlängelte sich eine Hundeleine heraus.
Auf der Couch gegenüber, genauso ausgestreckt wie sein Herrchen, residierte Harrys Hund. Der fettleibige Basset lag auf dem Rücken, so dass die Fettschicht seines Bauchs bei jedem Atemzug heftig wabbelte. Während ein Ohr fast bis auf den Fußboden herabhing, lag das andere so ausgebreitet auf dem Lederpolster wie eine benutzte Serviette. Der Hund öffnete ein blutunterlaufenes Auge, entdeckte Mercer und versuchte, zur Begrüßung mit dem Schwanz zu wedeln. Diese Anstrengung war aber wohl zu viel, daher schlief der Hund wieder ein und schnarchte kaum leiser als sein Herrchen.
»Et tu, Drag?«, sagte Mercer zu dem Köter. Er angelte sich das schnurlose Telefon von Harrys Brust und tippte dem alten
Lüstling auf die Schulter. Harry gab ein erschrecktes Grunzen von sich und schlug die Augen auf.
»Telefonsex, Harry? In deinem Alter kriegst du doch höchstens alle Schaltjahre noch einen Ständer, und du vergeudest ihn auch noch mit Telefonsex.«
Der alte Mann erforschte mit der Zunge das Innere seines Mundes und fühlte sich offensichtlich durch das, was er dort fand, abgestoßen. »Hi, Mercer.« Harrys Stimme klang wie ein altersschwacher Güterzug. »Ich hab gar nichts vergeudet. Ich wollte mir nur mal anhören, was es damit so auf sich hat.«
»Da du geschlafen hast, kann ich dir versichern, dass es geradezu Wunder gewirkt hat. Wie lange warst du in der Leitung?«
Harry blickte auf die Uhr, wobei sich sein faltiges Gesicht vor Konzentration glättete. »Heilige Scheiße, schon halb fünf. Hey, ich muss sofort los. Ich habe Tiny versprochen, gleich wieder zurückzukommen.«
»Wie lange, Harry?«
»Kann ich nicht genau sagen. Ich glaube, ich bin gegen halb vier eingeschlafen.«
»Zwei Dollar pro Minute?«
Harry senkte den Blick, aber nicht, weil ihm peinlich war, was er getan hatte, sondern dass er dabei erwischt worden war. »Ich glaube, sie haben sogar etwas von vier Dollar erwähnt, aber ich bin mir nicht ganz sicher.«
Einige Freundschaften entwickeln sich im Laufe vieler Jahre, einige ergeben sich aus rein praktischen Erwägungen, sei es, weil man den gleichen Arbeitsplatz hat oder in enger Nachbarschaft lebt. Einige entziehen sich allerdings jeglicher logischen Erklärung.
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