Havoc
Grendel erstaunt. »Weiß er, dass wir hier sind?«, wisperte Kady.
»Wenn er zeichnet, fällt er immer in eine Art Trance«, erklärte Alicia. »Er wird uns erst bemerken, wenn er fertig is t …«
»Im Geiste ist er in Malice«, sagte Seth. »Er zeichnet, was er sieht.«
Justin ging zögernd auf Grendel zu. Seine Miene war von Neugier und Abscheu erfüllt. Alicia spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Sie wusste genau, warum Justin so guckte. Er sah nur Grendels verkrüppelten Körper und sein missgestaltetes Gesicht.
» Das ist er?«, sagte Justin erstaunt. » Das ist der Typ, der Malice erschaffen hat? Dieser Freak?«
»Ja, genau, dieser Freak «, fauchte Alicia in einem Ton, der ihm unmissverständlich zu verstehen gab, dass es besser war, den Mund zu halten. Justin zog den Kopf ein und schwieg.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte Seth. »Können wir ihn irgendwie hier rausschmuggeln?«
»Wir müssen warten, bis er fertig ist«, sagte Alicia. »Vorher wird er sich nicht von hier fortbewegen.«
»Und wie lange dauert das normalerweise?«, erkundigte sich Justin mit spöttischem Unterton.
»So lange, wie es nun mal dauert«, zischte Alicia genervt. Sie mochte Justin nicht, hatte ihn von Anfang an nicht gemocht.
Seufzend ging sie auf Seth zu, der staunend die Bilder betrachtete, die überall auf dem Dachboden auf Staffeleien standen oder an der Wand lehnten. Besonders die riesigen Gemälde, die Szenen aus Malice zeigten, faszinierten ihn. Eines stellte ein Tal unter einem bewölkten Himmel dar und sah so realistisch aus, dass man meinte, direkt in die Landschaft hineinspazieren zu können.
Daneben stand ein lebensgroßes Gemälde von Tall Jake. Alicia hasste dieses Bild. Sie hatte immer das Gefühl, der Mann auf dem Bild würde sie beobachten.
»Das ist also das berühmte Porträt von Tall Jake«, sagte Seth. »Die Laq hat mir erzählt, dass er eines Tages einfach aus dem Bild herausgetreten ist und auf diesem Dachboden stand. So ist er in unsere Welt gekommen.«
Alicia bekam eine Gänsehaut und schlang die Arme um den Oberkörper.
»Da fällt mir ei n … Ich hab mich ja noch gar nicht bei dir bedankt«, sagte Seth lächelnd. »Das war echt unglaublich mutig von dir, dass du meine Nachricht nicht ignoriert, sondern sofort was unternommen hast. War bestimmt nicht einfach für dich.«
Alicia errötete. »Es gibt Situatione n … in denen muss man einfach mutig sein.«
Sie sah zu Grendel hinüber. Seth folgte ihrem Blick. Kady stand neben ihm und blickte über seine Schulter auf das Zeichenblatt.
»Wahrscheinlich hast du Recht«, sagte Seth, aber sein Blick ruhte auf Kady, nicht auf Grendel.
»Hey!«, rief Kady plötzlich aufgeregt. »Kommt mal schnell her.«
Grendel war am Ende der Seite angelangt und stellte gerade das letzte Kästchen fertig. Alicia beugte sich vor, um sich anzusehen, was er gezeichnet hatte, und wandte sich dann schaudernd ab. Es waren Szenen einer blutigen Schlacht.
»Auf den Bildern sieht man, was danach passiert ist«, sagte Kady. »Nachdem wir weg waren, meine ich. Da sind Dylan und Scotty! Und Tatyana!« Sie beugte sich vor. »Tall Jakes Heer flieht! Sie sind definitiv besiegt worden!« Sie richtete sich wieder auf und strahlte Seth an. »Wir haben gewonnen!«
Ach? Glaubst du, ja?
Alicia lief es beim Klang der Stimme eiskalt über den Rücken. Sie hörte sich an wie das Kratzen von Fingernägeln im Innern eines Sargs.
Hinter einer Reihe nebeneinanderstehender Staffeleien tauchten Icarus Scratch und Miss Benjamin auf. Und wie Blut aus einer schwarzen Wunde trat jemand aus dem Schatten, von dem sie gehofft hatte, ihm niemals begegnen zu müssen. Jemand, den sie bisher nur flüchtig aus der Ferne und auf einem furchterregenden Gemälde gesehen hatte.
Tall Jake höchstpersönlich.
Übergänge
1
Tall Jake!
Seth erstarrte. Er war hier. Stand direkt vor ihnen.
Ihn auf diesem Dachboden zu sehen, fühlte sich falsch an. Als wäre ein Loch in ihre Welt gerissen worden, das alles Licht und Leben verschlang. Er war nicht am richtigen Ort, war nicht da, wo er hingehört e – fühlte sich unwirklich an.
Andererseits war es auch nicht der Tall Jake, den Seth aus den Comics kannte. Er hatte kaum noch etwas mit der grausam übermächtigen Gestalt zu tun, die Lukes Tod zu verantworten hatte. Sein Dreispitz war verschwunden, wodurch sein nahezu kahler, knochiger Schädel ungeschützt den Blicken preisgegeben war. Nur an den Schläfen ringelten sich ein paar schüttere Haare und
Weitere Kostenlose Bücher