Havoc
sollen uns diese Fabrik anschauen?«
»Ich würde sagen, uns bleibt gar nichts anderes übrig.«
Er schüttelte den Kopf. »Mir vielleicht nicht, aber dir schon«, sagte er mit fester Stimme. »Du hast mir wirklich schon genug geholfen. Und die haben gedroht, jeden umzubringen, der mir hilft, du hast es ja selbst gelesen. Ich kann nicht zulassen, dass du meinetwegen dein Leben riskierst.«
Alicia sah ihn an. »Ich habe Tall Jake auch gerufen«, sagte sie.
Seth schloss verzweifelt die Augen.
»Es war eine Mutprobe. Ich hab bloß aus Quatsch mitgemacht. Aber das ändert wahrscheinlich nichts.«
»Nein, leider nicht.«
Alicia sah mit zusammengekniffenen Augen die Straße hinunter. Sie hatte wahnsinnige Angst, gab sich aber alle Mühe, sie nicht zu zeigen.
Doch Seth merkte, dass ihre Entschlossenheit nur gespielt war. Sie wollte nicht in diese Sache hineingezogen werden. Viel lieber hätte sie sich umgedreht, wäre nach Hause gegangen und hätte alles vergessen, was sie jemals über Malice erfahren hatte. Aber dazu war es jetzt zu spät. Sie hatte die mörderische Bestie gesehen, die ihn verfolgt hatte, und die entsetzlichen Drohungen auf dem Bildschirm gelese n – das genügte. Sie glaubte ihm, und Seth wusste, was das bedeutete: Sie war dazu verdammt, den Rest ihres Lebens Angst zu haben, dass Tall Jake kommen und sie holen könnte.
Entweder lebte sie mit dieser Angst oder sie versuchte, etwas dagegen zu unternehmen.
»Bist du dir ganz sicher, dass du das tun willst?«, fragte er ernst.
»Natürlich will ich es nicht tun, was glaubst du denn!«, stieß sie hervor. »Deshalb schlage ich vor, dass wir uns beeilen, bevor ich es mir wieder anders überlege. Von hier aus sind wir mit dem Zug in einer Stunde in Birmingham.«
Seth glitt von der Mauer und setzte sich wieder seinen Rucksack auf. Der Shard fühlte sich schwer wie Blei an.
»Dann los«, sagte er.
Klauenfels
1
Der Zug brachte Kady, Justin, Scotty und Tatyana aus der Stadt heraus. Durch das Bullauge sah Kady, wie die Gebäude nach und nach spärlicher wurden und schließlich einer idyllischen Landschaft aus felsigen Hügeln und Tälern Platz machten. Da der Zug auf einer Hochbahnstrecke dahinglitt, die auf einem steinernen Viadukt errichtet war, konnte sie weit über das Land blicken. Obwohl das fahle Licht der Sonne die Szenerie mit einem trüben Schleier überzog, war die Aussicht atemberaubend. Eine ganze Weile saß sie nur staunend da und konnte den Blick nicht von der gespenstisch schönen Landschaft reißen, bis das Schaukeln des Zugs sie allmählich schläfrig machte und sie irgendwann einnickte.
Ein heftiger Ruck und das Kreischen der Bremsen rissen sie aus dem Schlaf. Der Zug hatte in einem Bahnhof gehalten und Scotty machte ihnen Zeichen, auszusteigen. Es war wieder ein Hochbahnhof, der fast genauso aussah wie der, in dem sie eingestiegen waren. Auf einem an einem Pfeiler angebrachten Metallschild las Kady den Namen der Station: KLAUENFELS.
Zusammen mit ihnen stiegen auch noch ein paar andere Passagiere aus. Justin fluchte leise und Kady erstarrte. Am Ausgang hatten sich zwei Regulatoren postiert, die ihren Blick suchend durch die Halle schweifen ließen. Einen Augenblick spielte Kady mit dem Gedanken, wieder in den Zug zu steigen, bevor sich die Türen schlossen, aber Justin packte sie am Arm und zog sie mit sich.
»Geh einfach ganz normal weiter«, zischte er. »Wenn wir jetzt losrennen, machen wir uns nur verdächtig.«
Also setzten sie betont gleichgültige Mienen auf und schlenderten so gelassen wie möglich auf den Ausgang zu. Die Regulatoren standen rechts und links von der Treppe. Sie waren groß und hager und trugen schwarze Uniformen, ihre Gesichter waren hinter den heruntergezogenen Visieren der Helme kaum zu erkennen. Beide waren mit großen luftdruckbetriebenen Harpunen bewaffnet, aus denen zehn Zentimeter lange, absolut tödliche Stahlpfeile abgefeuert werden konnten.
»Warum seid ihr so nervös?«, flüsterte Scotty. »Werdet ihr wegen irgendwas gesucht?«
»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Justin leise. »Trotzdem würde ich den Typen lieber aus dem Weg gehen.«
Aber es war zu spät. In diesem Moment schlossen sich zischend die Zugtüren, dann stieß die Lokomotive eine gewaltige Dampfwolke aus und fuhr ratternd aus dem Bahnhof. Den vier blieb gar nichts anderes übrig, als weiter Richtung Ausgang zu gehen.
Mittlerweile waren sie den Regulatoren so nahe, dass sie die Gesichter unter den getönten Visieren
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