Havoc
schon okay«, sagte sie und holte ihr Handy aus der Tasche. »Ich rufe einfach an, wenn es ein Problem gibt.«
Lemar sah sie zweifelnd an, zuckte aber schließlich mit den Schultern und sagte: »Okay, wie du willst. Ich melde mich heute Abend, bevor ich in London losfahre.« Dann startete er den Motor und fuhr davon.
Alicia sah ihm nach, bis er hinter einer Kurve verschwunden war. Sie bereute es jetzt schon, hierhergekommen zu sein. Nun stand sie mutterseelenallein auf diesem einsamen Industriegelände am Rande einer Stadt, in der sie keine Menschenseele kannte, und musste den ganzen Tag herumbringen, bevor sie wieder abgeholt wurde.
Sie dachte an die Horrorgeschichten über Jugendliche, die ihren Eltern irgendeine Lüge aufgetischt hatten, um heimlich auf eine Party zu gehen oder sich mit jemandem zu verabreden, den sie übers Internet kennengelernt hatten, und die dann nie mehr nach Hause zurückkehrt waren. Sie hatte sich immer gefragt, wie jemand so dumm sein und sich selbst in Gefahr bringen konnte. Tja, jetzt hatte sie ihre Antwort.
Nachdem sie eine Weile unschlüssig am Tor stehen geblieben war, ging sie am Parkplatz vorbei und bog in eine kurze Straße ein, die zwischen den Gebäuden hindurchführte. Das Gelände wirkte völlig verlassen. Nur die wenigen Autos auf dem Parkplatz ließen darauf schließen, dass wohl doch ein paar Leute da waren, die samstags arbeiteten.
Alicia hatte vorsorglich ein Buch, ihren Skizzenblock und ihren MP3-Player mitgenommen, um sic h – falls die Druckerei geschlossen wa r – irgendwo hinzusetzen und solange zu lesen, zu zeichnen oder Musik zu hören, bis ihr Bruder sie abholte.
Allerdings hatte sie nicht darüber nachgedacht, dass es auch regnen könnte. »Na toll«, stöhnte sie, als sie den ersten Tropfen auf der Nase spürte.
Das Gelände wirkte ziemlich heruntergekommen. Überall wucherte Unkraut zwischen den Steinplatten und in einer Ecke standen mit Planen zugedeckte Gabelstapler und Berge von Paletten. Die Fenster der Wellblechgebäude lagen zu hoch, um ins Innere zu sehen. An manchen Fassaden waren riesige Schilder angebracht, auf denen die Namen der Firmen standen. Stormont Cabinets , Johnson’s Timber , Imagination Inc . Ein Schild der Druckerei The Printworks war allerdings nirgends zu entdecken. Als Alicia sich eines der anderen Gebäude näher ansah, stellte sie fest, dass auf einem kleinen Schild neben der Eingangstür viele weitere Firmennamen aufgelistet waren. Aus der Tür traten gerade zwei Arbeiter mit Schutzhelmen, die einen langen Holzbalken schleppten.
Als sie Alicia sahen, fragten sie, ob sie ihr irgendwie helfen könnten.
»Nein, nein. Ich warte auf meinen Vater«, antwortete sie und ging schnell weiter. Sie hätte die Männer natürlich auch nach The Printworks fragen können. Aber obwohl sie nicht so aussahen, als würden sie zu Tall Jake gehören, wollte Alicia lieber kein Risiko eingehen.
Der Regen wurde allmählich stärker und Alicia hielt sich die Jacke vorne zu, während sie mit gesenktem Kopf von Gebäude zu Gebäude eilte.
Schließlich fand sie den Eingang zur Druckerei auf der Rückseite eines Gebäudes. An der Tür hing nur ein winziges Schild und aus dem Inneren drang lautes Rattern, wahrscheinlich von den Druckerpressen. Vielleicht wurde gerade die neue Ausgabe von Malice gedruckt.
Alicia zögerte, aber es regnete immer heftiger und ihre Haare begannen sich zu kräusel n – was sie hasste. Wahrscheinlich hätte sie sich länger vor dem Gebäude herumgedrückt, wenn der Regen sie nicht hineingetrieben hätte.
Erst als sie die Tür bereits geöffnet hatte, fiel ihr ein, dass sie überhaupt nicht daran gedacht hatte, sich eine Ausrede zurechtzulegen, falls sie jemand fragen sollte, was sie hier suchte.
Aber zu ihrem Glück führte die Tür bloß in ein schäbiges Sekretariat, in dem gerade niemand saß. Es sah aus wie das Wartezimmer einer Arztpraxis, in dem seit Jahren niemand mehr gesaugt und aufgeräumt hatte. Nur eine der Neonröhren an der Decke funktionierte noch, die anderen waren kaputt und nie ersetzt worden.
Alicia sah sich unbehaglich in dem verlassenen Raum um. Es war eisig kalt. Offensichtlich hielt keiner es für nötig, die Heizung aufzudrehen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass hier jemals Besucher empfangen wurden, was wiederum bedeutete, dass sie auf der richtigen Spur war.
Von dem Raum gingen zwei Türen ab. In die eine waren zwei schmale Scheiben eingelassen, durch die sie in einen langen Korridor
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