Havoc
wirkte an einer Seite merkwürdig aufgedunsen und war von Beulen übersät.
Mitleid überfiel sie. Sie hatte noch nie einen so grausam missgestalteten Menschen gesehen.
Aber er beachtete sie immer noch nicht.
»Hallo«, sagte sie noch einmal leise und berührte ihn sanft an der Schulter.
Diesmal reagierte Grendel sofort und fuhr mit einem gereizten Knurren herum. Der Anblick seines Gesichts versetzte Alicia den nächsten Schock. Es war ebenfalls völlig deformiert und hing auf der einen Seite nach unten. Unter der von tiefen Falten durchfurchten Stirn saß ein winziges verkümmertes Auge, das andere war weit aufgerissen und blitzte wütend. Aus seinen schiefen Kiefern standen die Zähne kreuz und quer hervor. Dazu hatte er eine Hasenscharte, eine offene Spalte, die von der Oberlippe bis zur Nase reichte und ihn aussehen ließ, als würde er permanent verächtlich grinsen. Verärgert darüber, dass sie ihn beim Zeichnen gestört hatte, funkelte er sie an. Aber trotz seines monströsen Äußeren hatte Alicia keine Angst vor ihm. Aus irgendeinem Grund spürte sie, dass er nicht böse war, auch wenn sein Aussehen das Gegenteil vermuten ließ. Ihr stiegen Tränen in die Augen.
»Sie armer, armer Mann«, flüsterte sie.
Die Wut in Grendels Augen erlosch und er sah sie verblüfft an.
»Ich heiße Alicia«, stellte sie sich noch einmal vor und lächelte zaghaft.
Grendel ließ seine entstellten Augen einen Moment lang musternd über ihr Gesicht wandern, dann grunzte er kurz und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Alicia machte sich daran, den Dachboden nach ihrer Brille abzusuchen und wurde tatsächlich bald fündig. Wie durch ein Wunder war sie sogar heil geblieben.
Nachdem sie nun wieder alles klar erkennen konnte, stellte sie fest, dass der Dachboden sogar noch größer war, als sie ursprünglich angenommen hatte. Überall standen Leinwände herum, Gemälde von Gebäuden, Landschaften, Menschen und Monstern. Alles Szenen aus Malice. Einige waren hastig hingeworfen, andere sorgfältig in Öl ausgeführt. Dazu hing an den Wänden ein einziges Durcheinander aus Kohle- und Tuschezeichnungen, Aquarellen und Bleistiftskizzen. Die Ausbeute eines schöpferischen Geists, der sich über Papier und Leinwand ergossen hatte. Grendels überschäumende Fantasie, die sich Raum geschaffen hatte.
An der Wand lehnte ein riesiges Aquarell, auf dem ein trostloses Tal mit einer fremdartig aussehenden Stadt zu sehen war. Das Ölgemälde daneben zeigte einen dürren, hochgewachsenen Mann, der einen Dreispitz trug und einen langen Mantel mit hochgeklapptem Kragen, hinter dem sein Gesicht verborgen lag. Im Schatten des Hutes waren nur seine bösartig glitzernden Augen zu sehen. Er war in Lebensgröße gemalt und sah so unglaublich realistisch aus, dass Alicia Angst hatte, er könnte jeden Augenblick aus dem Bild treten und nach ihr greifen. Schaudernd wandte sie sich ab.
Hätte sie doch nur ihr Handy bei sich gehabt, dann hätte sie Hilfe rufen können. Aber das steckte leider in der Tasche, die sie auf der Treppe verloren hatte, und bei dem Gedanken, noch einmal dort hinauszugehen, um sie holen, begann sie am ganzen Körper zu zittern. Niemals.
Nach der anfänglichen Erleichterung machte sich allmählich wieder Unruhe in ihr breit. Auf dem Dachboden war sie zwar fürs Erste sicher, aber es gab keine Möglichkeit, von hier fortzukommen und etwas zu unternehmen. Grendel war wieder völlig in seine Arbeit versunken und schien ihre Anwesenheit schon vergessen zu haben. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten, bis er mit dem Zeichnen fertig war und dann noch einmal zu versuchen, sich mit ihm zu unterhalten.
Da sie nichts Besseres zu tun hatte, griff sie sich ein Blatt Papier von einem Stapel und einen Bleistift, setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und begann Grendel bei der Arbeit zu zeichnen. Anfangs war es für sie nur eine Möglichkeit, die Zeit totzuschlagen, aber nach einer Weile merkte sie, dass es ihr richtig Spaß machte. Von plötzlichem Ehrgeiz gepackt, blickte sie immer wieder kurz vom Blatt auf, um Grendel in allen Details so wirklichkeitsgetreu wie möglich wiederzugeben. Bald war sie genauso in ihre Arbeit vertieft wie er und ihr Stift flog nur so übers Papier.
Das konzentrierte Zeichnen hatte eine beruhigende Wirkung auf sie und half ihr, das schreckliche Erlebnis im Treppenhaus zu verarbeiten. Auf dem Zeichenblatt hatte sie alles unter Kontrolle.
Irgendwann fiel ihr auf, dass es seltsam still geworden
Weitere Kostenlose Bücher