Havoc
dachte sie. Das muss Grendel sein.
Ihr lief es kalt über den Rücken, als ihr schlagartig wieder bewusst wurde, wo sie sich befand. Von all den Geheimnissen um Malice war dies hier das bestgehütete. Seit sie das erste Mal von dem Comic gehört hatte, wusste sie, dass Grendels Identität Gegenstand leidenschaftlicher Diskussionen unter den Malice-Fans war. Und jetzt war sie mit dem geheimnisvollen Schöpfer des Comics in ein und demselben Raum. Sie fragte sich, ob irgendjemand außer den engsten Vertrauten von Tall Jake ihn jemals zu Gesicht bekommen hatte.
Mit zusammengekniffenen Augen sah Alicia sich weiter auf dem Dachboden um. Überall lagen zerknüllte Zeichenblätter, verschmierte Lumpen und Teller mit verschimmelten Essensresten herum. Im hinteren Teil des Raums sah sie ein braunes Rechteck in der Wand, das die Tür sein musste. Das war vermutlich der einzige Weg, der nach draußen führte, aber sie wusste nur allzu gut, was dahinter lauerte. Die Treppe und die alles verschlingende Dunkelheit. Nichts würde sie dazu bringen, jemals wieder durch diese Tür zu gehen.
Alicia zuckte zusammen, als Grendel wieder ein Geräusch von sich gab, das wie das Grunzen eines Schweins klang. Aber er schien noch nicht bemerkt zu haben, dass sie aufgewacht war.
Sie räusperte sich und sagte leise: »Hallo?«
Jedenfalls versuchte sie es, aber ihre Kehle war so ausgetrocknet, dass nur ein heiseres Krächzen herauskam. Sie schluckte und versuchte es noch einmal.
»Hallo?«
Grendel brummte etwas und zeichnete unbeirrt weiter. Er schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen.
Alicia ging ein paar Schritte auf ihn zu. Verwundert fragte sie sich, warum er sie vor dem sicheren Tod bewahrt hatte, nur um sie jetzt zu ignorieren.
Als sie sich ihm ängstlich näherte, nahmen seine Umrisse allmählich klarere Formen an. Er saß mit dem Rücken zu ihr. Doch auch wenn sie ihn nur von hinten sah, reichte das, um ihren ersten Eindruck zu bestätigen: Grendel glich einem riesigen menschlichen Fleischberg. Den massigen Oberkörper dicht über den Zeichenblock gebeugt, wirkte er angestrengt konzentriert wie ein Riese, der versucht, einen Faden in ein Nadelöhr zu fädeln. Sein Stift glitt unablässig über das Papier und er schien völlig in seine Arbeit versunken.
Alicia trat noch einen Schritt näher an ihn heran und sah jetzt, dass sein Körper seltsam missgestaltet war. Er hatte einen Buckel und eine unnatürlich schiefe Sitzhaltung, als wäre seine Wirbelsäule verkrümmt. Seine Arme waren dick wie Baumstämme und von sehnigen Muskelsträngen überzogen.
»Hallo?«, versuchte sie es noch einmal und sagte dann zögernd: »Ic h … ä h … ich bin Alicia. Und Sie sind Grendel, stimmt’s?«
Grendel reagierte zwar nicht, schien sich aber auch nicht gestört zu fühlen. Sie nahm all ihren Mut zusammen und stellte sich neben ihn, um einen Blick auf seine Arbeit zu werfen. Ihr stockte der Atem.
Er zeichnete Malice. Der Stift tanzte über das Papier, auf dem in rasender Geschwindigkeit ein Comicbild nach dem anderen entstand. Anscheinend benötigte er keine Bleistiftvorzeichnung, sondern brachte alles aus dem Kopf direkt aufs Blatt. Alicia musste ihre Motive immer erst skizzieren, bevor sie sie mit Tusche nachzeichnete, sonst bekam sie die Proportionen und die Perspektive nicht richtig hin, aber Grendel hatte das offenbar nicht nötig.
Er war gerade dabei, einen Jungen mit längeren braunen Haaren zu zeichnen, der eine steile Klippe emporkletterte. Sein Gesicht war vor Todesangst verzerrt. Im nächsten Kästchen sah man, dass er von einem Monster verfolgt wurde, das wie eine Mischung aus einer Gottesanbeterin und einem Skorpion aussah, allerdings mit dem Unterschied, dass es so groß wie ein Tiger war. Alicias Augen huschten weiter über die Kästchen des Comics, bis sie sah, wie der Junge sich an einem Felsvorsprung festklammerte, der plötzlich abbrach, sodass er in die Tiefe stürzt e …
Sie musste den Blick abwenden. Das war nicht bloß irgendeine ausgedachte Comicgeschichte. Irgendwo in Malice war in diesem Moment tatsächlich ein Junge in den sicheren Tod gestürzt. Sie wollte gar nicht sehen, wie es weiterging.
Grendel beugte sich noch tiefer über das Papier, sodass die Stahlmine seines Tuschefüllers direkt vor seiner Nase über das Blatt kratzte. Sein Kopf war im Vergleich zu seinem Körper winzig klein, saß direkt auf seinen massigen Schultern und war bis auf ein pechschwarzes Haarbüschel vollkommen kahl. Der Schädel
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