Heaven (German Edition)
befanden? Wer verstand den Schmerz, den die Trennung uns zufügte?
Und da wusste ich es.
Emily.
Xaviers erste Freundin, das erste Mädchen, das er je geliebt hatte und das er immer beschützen wollte. Sie waren zusammen auf der Bryce Hamilton gewesen, lange vor meiner Zeit. Wie alle in Venus Cove hatten sie sich von klein auf gekannt. Und sie hatten geglaubt, dass sie eines Tages heiraten würden. Dann aber war Emily bei lebendigem Leib verbrannt, ermordet von Dämonen, auch wenn das damals niemand auch nur geahnt hatte. Genau wie ich war sie gegen ihren Willen von Xavier getrennt worden. Aber würde sie uns jetzt helfen wollen? Empfand ihre Seele noch immer etwas für ihn? Vielleicht war sie sogar froh, dass wir endlich auseinandergerissen waren.
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.
So schwer es auch war, ich hatte die Gabe, per Gedankenübertragung Kontakt mit Verstorbenen aufzunehmen. Genau das würde ich jetzt tun, auch wenn ich etwas aus der Übung war. Also schloss ich die Augen und ließ meinen Geist aus meinem weißen Gefängnis herauswandern in die Weiten des Himmels. Bald schon spürte ich die Energie der Seelen in meinem Kopf pulsieren. Natürlich konnte ich nicht sehen, was sie sahen, jede Seele lebte in ihrem eigenen persönlichen Himmel. Auch wenn sie Seite an Seite saßen, erlaubte ihnen der Himmel, in glückliche Erinnerungen aus ihrer Vergangenheit zurückzukehren oder an einen Ort, den sie als Kind sehr gemocht hatten. Ich hatte gehört, dass es viele stille Gärten und Strände gab, dass aber jeder einzelne anders aussah. Der Himmel eines Mannes war das Innere seines Schranks. Dort hatte er sich als Kind versteckt, wenn ihm alles zu viel wurde, und es war für immer sein Rückzugsort geblieben. Und genau dorthin war seine Seele gewandert. Die Engel fanden das zwar etwas komisch, aber es war nicht an uns, darüber zu richten.
«Emily.» Ich sprach ihren Namen so leise aus, dass es kaum hörbar war. «Emily, ich brauche deine Hilfe.»
Ich wiederholte ihren Namen immer wieder. Nach und nach wurden meine Sinne schärfer, der weiße Raum löste sich auf, und der Regenbogendurchgang öffnete sich für mich. Ich lief hindurch, ohne mich zu rühren, als ob mich ein wunderschöner Strudel aus Farben aufsaugte, und als ich am anderen Ende ankam … stand ich in Xaviers Zimmer.
Ich sah mich verwirrt um. Die Gefühle überwältigten mich, es war, als wäre ich unter eine Dampfwalze geraten. Dann aber sah ich das Mädchen, das im Schneidersitz auf dem Bett saß, und begriff – dies war Emilys Himmel. Xaviers Zimmer sah anders aus, als ich es kannte, überall lagen Sportsachen herum, und der Schreibtisch war mit Süßigkeiten zugemüllt. Auch die Fotos auf dem Regal waren andere – sie zeigten das Schwimmteam der Neuntklässler und eine Clique, bei der ich außer Xavier und Emily niemanden kannte. Oder war der eine Junge womöglich die jüngere Version seines Freundes Wesley? Aber auch Xavier erkannte ich erst auf den zweiten Blick, so eingequetscht stand er zwischen einem Mädchen mit Zöpfen und einem Jungen mit umgedrehter Baseballkappe. Sein Haar war heller und kurzgeschnitten und fiel ihm nicht vor die Augen wie jetzt. Er wirkte auch noch nicht so muskulös, sondern schlanker und jungenhafter. Trug er eine Zahnspange? Er sah auch damals phantastisch aus, aber fast noch wie ein Kind, so anders als der Mann, der er geworden war.
Die ganze Szenerie verwirrte mich. Ich stand im Zimmer eines Kindes, auch wenn das Ganze nur ungefähr vier Jahre her war. Konnte sich in so kurzer Zeit so viel verändern? Ich betrachtete die Gesichter auf dem Foto, die allesamt sorglos wirkten. Es waren nette Teenager, die zusammen ins Kino gingen und sich gegenseitig mit dem Fahrrad besuchten.
«Ich schätze, du hast ihn anders in Erinnerung, oder?»
Obwohl ich es war, die in ihren Himmel eingedrungen war, erschrak ich, als Emily mich ansprach. Ich drehte mich zu ihr um. Bisher kannte ich sie nur von schlechten Fotos in alten Schuljahrbüchern. Xavier selbst hatte sich von allen Bildern getrennt oder sie irgendwo versteckt, wo er sie nicht anzusehen brauchte. Emily sah anders aus, als ich erwartet hatte, auch wenn ich nicht genau wusste, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie war klein und hatte glattes blondes Haar und braune Augen. Ihre Nase war leicht nach oben gebogen und ihre Augenbrauen geschwungen, was ihr einen leicht eingebildeten Ausdruck verlieh.
Sie trug einen weiten schwarzen Kapuzenpulli und
Weitere Kostenlose Bücher