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Heaven - Stadt der Feen

Heaven - Stadt der Feen

Titel: Heaven - Stadt der Feen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Schmerz, der durch seinen Rücken zuckte, und rannte weiter. Heavens Atem ging gleichmäßig neben ihm in der Kälte. Ihre Reserven schienen unerschöpflich zu sein.
    Der nächste Dachvorsprung, diesmal höher. Er zog sich hoch, machte einen Sprung. Nutzte den Schwung, um die Distanz zu überbrücken. Diesmal ging es einfacher.
    Weiter.
    David sah wilde Momente seines Lebens aufflackern wie Stummfilmbilder, deren Text abhandengekommen ist. Das muffige Zimmer. Die heruntergezogenen Jalousien. Das Kreischen in der Stimme seiner Mutter. Der laute Streit mit seinem Vater, der sich weigerte, die Wahrheit zu akzeptieren. Geraldine, die tagaus, tagein vor dem Fernseher saß und kein Leben lebte. Die Geschichten, die er ihr erzählt hatte, um sie abzulenken. Die Entscheidung, aus Cardiff wegzugehen, weil die Scherben, die dort lagen, nur ins Fleisch schnitten und nie wieder zusammengefügt werden konnten.
    Jeder hatte eine Bestie, die er abzuschütteln versuchte. Doch allein war es umso schwerer, mit ihr fertig zu werden.
    David dachte an Feen und Himmel, an Herzen und Küsse – und er spürte, wie die Bestie an Boden verlor.
    Am Oxford Circus verließen sie die Dächer, der Schnee war hier so pappig, dass es zu gefährlich wurde. Den Rest des Weges fuhren sie mit der Bakerloo Line. Die U-Bahn brachte sie bis zur Warwick Avenue.
    Marylebone schien wie verwandelt zu sein. Die Backsteinhäuserwarfen längere Schatten als gestern, die vielen Brücken und schmalen Uferwege mit den verwaisten Bänken, auf denen eine leichte Decke aus frischem Schnee lag, wirkten wie lebendige Schemen, die der nahenden Nacht vorausliefen. Es war noch weniger los in der Gegend als am Vortag, nicht einmal mehr die Jogger drehten ihre Runden. Der Geruch des grauen Wassers erinnerte an Cardiff, aber nicht mehr ans Meer, sondern an den muffigen Gestank des alten Badezimmers, das nie gelüftet wurde.
    »Es ist weg!«
    David sah mit einem Blick, was Heaven meinte. Das Schiff von Julian und Eve lag noch an derselben Stelle wie am Vortag, doch Heavens Boot war fort.
    David berührte ihre Schulter. »Sei vorsichtig«, bat er sie.
    Heaven sah ihn nur an. »Sagt wer?«, erwiderte sie und versuchte zu grinsen, doch es sah gespenstisch aus.
    Sie überquerten die kleine geschwungene Fußgängerbrücke und näherten sich der Anlegestelle.
    Alles im Boot war ruhig. Innen brannte Licht, aber es waren keine Geräusche zu hören. Nur das sanfte Platschen des kalten Wassers gegen den fetten Leib des Schiffes klang zu ihnen hinüber und von irgendwoher der ferne Verkehr in der Wellington Road und der St. John’s Wood Road.
    David spürte, wie das Boot unter ihm schaukelte. Die Mandalas auf der Bootswand sahen nicht länger fröhlich aus und der Buddha aus Stein, der oben auf dem Dach hockte, blieb stumm und ernst. Die Plastikfolien der Sträucher flatterten um die Steinkübel, die Asche war längst aus der offenen Feuerstelle geweht worden. Ein weißer Flaum aus Schnee hatte sich auf alles gelegt.
    Ihre Schritte hinterließen jetzt Spuren. David klopfte an die niedrige Tür, erst zögerlich, dann schneller. Sie hörten, wie sich Schritte näherten. Ein Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht. Julian öffnete ihnen.
    »Heaven!« Das runde Gesicht mit dem dünnen Ziegenbart und den dicken Koteletten sah blass aus, bis auf ein paar vereinzelte rote Flecken. Die zu einer festen Masse verfilzten Rastalocken wippten bei jeder Bewegung hin und her, die Augen glänzten fiebrig. »Endlich, du bist da.«
    Heaven ließ sich von ihm umarmen.
    Ein Schwall schwülwarmer Luft schlug ihr entgegen und sie kniff die Augen zusammen, als würde ihr feiner Sand ins Gesicht wehen.
    Julian trug ein buntes T-Shirt mit einem Cannabis-Motiv, dazu eine fleckige Militärhose und Sandalen.
    David spähte an Heaven und Julian vorbei ins Innere des Hausbootes. Wie im Dschungel, genauso sah es darin aus und so roch es auch: nach Erde, Feuchtigkeit und Hitze.
    Überall standen große Palmen herum, dichtes Grüngestrüpp wucherte sich an den Regalen hoch. Blumen mit roten Blüten blühten in Tontöpfen, die zwischen alten Büchern und Schallplatten standen, selbst jetzt im November.
    Kein Wunder, dass es hier drinnen so warm war.
    David lugte über die Schulter. Nichts! Sie traten ein und sahen das, was auf dem Boot geschehen war.
    »Was ist passiert?«, fragte Heaven erschrocken. »Oh Gott, Julian, was ist mit Eve geschehen?«
    Julian kramte in der Hosentasche herum, hielt schnell eine Visitenkarte

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