Heidenmauer
Günther hatte auch kein Interesse mehr daran. Das zumindest hat er mir vor einigen Wochen erzählt. Ich muss aber auch sagen, dass ich mich für diese Sache überhaupt nicht interessiert habe und wir nur ein-, zweimal darauf zu sprechen gekommen sind. Es mag Ihnen fremd erscheinen, aber es war so, dass weder Günther noch ich eine feste Beziehung miteinander wollten. Es war niemals geplant, zusammenzuziehen oder gemeinsam Urlaube zu verbringen – überhaupt nicht. Wir haben uns hier bei mir getroffen, sind ab und an zusammen in Konzerte gegangen oder haben ein verlängertes Wochenende in einer anderen Stadt verbracht. So müssen Sie sich das vorstellen.«
»Klingt sehr nüchtern.«
»Genau das war es aber nicht, auch wenn es so klingt.«
Er bereute, das Wort nüchtern gewählt zu haben, denn sie schien dadurch verletzt zu sein. Vielleicht war es aber auch so, dass ihr im Nachhinein dieses Wort als zutreffend erschien, was umso trauriger gewesen wäre. Jedenfalls sank ihr Kopf auf die Brust und sie schloss die Augen.
Schielin wartete.
»Sie sagten vorhin, es hätte eine Ausnahme gegeben, was Ihre Gespräche über die Arbeit anlangte. Dürfte ich wissen, worum es dabei ging?«
Sie holte tief Luft und sah ihn durchdringend an. Die Unbedarftheit, mit der sie sich zuvor unterhalten hatten, war verschwunden. »Natürlich. Günther war in Vorbereitung eines nächsten Projektes. Es ging da um die Bedeutung des Ginkgobaumes. Wir haben uns darüber unterhalten, weil ich mich generell für Bäume interessiere und für den Ginkgo insbesondere. Ihm wird ja eine besondere Heilkraft zugeschrieben, was mich als Apothekerin besonders interessierte. Darüber hatten wir einige längere Gespräche, über Ginkgos.«
*
Nach dem Gespräch mit Mirabeau Sehender fuhr Schielin zur angegebenen Adresse Im Heidach, nach Kressbronn. Wie Robert Funk und Lydia Naber ihm abwechselnd, manches Mal gleichzeitig redend und gestikulierend erklärten, hatte Ludwig Rubacher Ende vorletzter Woche den von ihm angemieteten Stadel in Unterreitnau räumen lassen. Alles was sich in den Regalen und Kisten befunden hatte, war von einem Umzugsunternehmen aus Ravensburg hierher nach Kressbronn geschafft worden, wo Rubacher eine weitere Lagerhalle angemietet hatte. Rubacher selbst war nicht anwesend, stattdessen sein Anwalt, der sich mehr für das in Kisten und Regalen Verstaute interessierte, als für das, was die Polizisten zu reden und zu tun hatten. Man konnte sich vorkommen wie in der Lagerhalle eines Antiquitätenhändlers. In den Regalen lehnten Bilderrahmen aller Ausprägungen aneinander, von naturbelassenem Holz über barocke Goldmuster bis hin zu schlichten Metallrahmen war alles vertreten.
Robert Funk hatte sich zuerst um die Gemälde gekümmert. Aquarelle, Öl- und Acrylbilder, Zeichnungen und einige Lithografien. Landschaftsdarstellungen überwogen, gefolgt von Stillleben und einigen Akten. – Die großen Gegensätze der Malerei lehnten friedlich beieinander. Einige waren mit Wellpappe locker umwickelt, die von sparsamen Klebebändern zusammengehalten wurde. Einen professionellen Eindruck machten die Verpackungen nicht. In den anderen metallenen Regalen, die vormals für die Lagerung von Metallwerkzeugen und Ersatzteilen installiert worden waren, standen Kartons und Einzelstücke, die zu groß für eine Verpackung waren. Einige Vasen, kleinere antike Möbelstücke, Kerzenständer und Folianten.
Schielin interessierte sich für die Bücher. Es waren ausnahmslos Bibeln – alte, großformatige Familienbibeln. Auf den ersten Seiten war in dünner und kunstvoller Schrift die Familiengeschichte eingetragen. Er konnte nicht viel entziffern, aber in der Familie Rupflin, der diese Bibel einmal gehört hatte, gab es viele Kinder zu beerdigen, und zwei Ehefrauen waren auf dem vierten Einlegeblatt schon im Kindbett gestorben. Das Papier strömte einen modrigen Geruch aus.
Lydia Naber war in der anderen Ecke und kramte in einer Kiste. Sie holte Besteck hervor und prüfte im spärlichen Licht die Qualität. »Christofle, Albi, Sterling, gepunzt«, sagte sie fachmännisch und voller Hochachtung. Die ganze Kiste war voll mit Silberbesteck. In den anderen Behältnissen fanden sie Porzellan, darunter echtes Meißener und ein Service von der Königlichen Porzellanmanufaktur Berlin. Lydia Naber fiel es schwer, damit aufzuhören, alle Kartons zu durchsuchen. Immer wieder hielt sie ehrfürchtig einen Teller, eine Kaffeekanne oder eine Tasse in die Höhe und
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