Heidenmauer
kaum, wenn ich an seine Kugelfigur denke.«
Lydia Naber entgegnete: »Sein Sohn hätte das als Kampfsportler wohl eher drauf gehabt, aber der hat nun wirklich ein belastbares Alibi.«
Robert Funk wollte sich in das Gespräch nicht einmischen und hatte auch keinen Ansatz, den er für weiterführend gehalten hätte. »Ich fahre zum Zeller in die Bindergasse, und wir treffen uns dann später auf der Dienststelle«, sagte er und löste die Runde damit auf. Er nahm Lydia bis vor die Inselhalle mit, wo er sie absetzte. Sie hatte vor, Martin mal wieder einen Besuch abzustatten.
*
Sie ging Auf der Mauer entlang bis zum Durchgang zum Alten Schulplatz. Ihr Ziel war das alte Haus im Schnittpunkt von Felsgässel und Grub. Sie klingelte und wurde droben von einem überrascht dreinschauenden und maulfaulen Martin erwartet. Er sah verschlafen aus. Immerhin war er schon, vielleicht auch noch, angezogen. Lydia Naber war über nichts verwundert, lediglich der relativ geordnete Zustand der Wohnung ließ sie etwas nachdenklich werden.
»Wohnt hier noch jemand?«, fragte sie hinterhältig und setzte sich auf das alte Ledersofa, ohne irgendwelche Zeitungsbündel, Jacken, Taschen oder Socken beiseite räumen zu müssen – und das war neu.
»Siehst du vielleicht noch jemanden außer mich?«, murrte er.
»Mir«, sagte sie.
Er drehte sich um. »Du?«
»Nein, ich meine es heißt mir.«
Er knurrte und machte sich an einem metallenen Kasten zu schaffen, der auf dem Brett stand, das als Sideboardersatz an die Wand gedübelt war. In dem Kasten steckten Röhren; wie sie früher, sehr viel früher, in den alten Radios eingebaut waren. Soweit sie erkennen konnte, glomm in einigen tatsächlich der dünne Faden in jenem warmen Rot, das bei Dunkelheit heimelig anmutete. Er knurrte etwas Unverständliches.
Seine betont abweisende Art nährte ihren Verdacht. »Du wirst doch nicht auf deine alten Tage schwach werden, mein Lieber, und deine Lagerstatt teilen; vielleicht sogar mit einer Frau, neiiin. Und – was machst du da eigentlich?«
»Musik hören.«
»Ich höre nichts. Kein Wunder bei dem alten Kasten da.«
»Er ist neu, man nennt diese Kästen Röhrenverstärker.«
Sie hatte keine Ahnung und ließ es sein, weiter nachzufragen. Er holte eine Langspielplatte aus einer der Kisten, die unter dem Brett standen, und hielt sie mit der Titelseite nach oben, sodass Lydia Naber das Cover sehen konnte. Es war monochrom elfenbeinfarben und zeigte die obere Hälfte eines Schädels. Nase, Mund und Kinnpartie lagen hinter einem runden Glas und waren deutlich als untere Gesichtshälfte einer Frau zu erkennen. Die Darstellung war abstoßend und faszinierend zugleich.
Ein Titel war nicht zu entziffern, und während er die Platte aus dem Karton holte und auf das Monstrum von Plattenspieler legte, sagte er. »Emerson, Lake & Palmer – Brain Salad Surgest.«
Kurz darauf drangen die Klänge durch den Raum. Ein Bass, wie sie ihn noch nie gehört hatte, dunkel, voller Kraft. Es war eher so, dass zuerst der Klang da war und den Raum füllte, später, viel später erst wurde dann Musik daraus.
Sie sah Martin an und nickte anerkennend. »Und das machen diese Röhren da?«
»Genau. Sie machen aus den Tönen einen Klang, kantig, wo es kantig sein soll, und rund, wo Ecken nichts zu suchen hatten.«
»Und was kostet so ein Röhrenteil?«
»Sag ich dir nicht.«
»Wieso?«
»Weil du mir dann keine Kohle mehr pumpst.«
»Mhm. Okay. Und wieso hörst du diese alten Platten und nicht CDs, das müsste doch dann noch besser klingen … und erst mal Klassik …«
Sie konnte seinem Gesichtsausdruck entnehmen, dass es nicht gut ankam, was sie sagte, und sie versuchte einen Schwenk. »Ich meine, vielleicht eine der klassischen Aufnahmen, in welchen dein Großvater immer so solistisch in den Pausen gehustet hat …«
Es half ein wenig, denn sie brachte ihn damit auf einen anderen Gedanken. Er hob die Hand. »Opa, der Pausenhuster. Da habe ich etwas Neues gefunden. Martha Argerich, Chopin, Klavierkonzert Nummer 1, Concertgebouw Amsterdam. Nicht einfach herauszuhören, gar nicht einfach, wirklich nicht. Bei diesem Konzert hat anscheinend jeder gehustet, der kein Instrument spielte, aber ich glaube, ich habe ihn trotzdem herausgefunden, wunderbar, sag ich dir, eine wunderschöne, sanfte Passage im zweiten Satz. Gerade da, wo sich alle anderen Hustenbären zusammengenommen haben, hat er seine Chance genutzt – sehr gelungen. Es war schon ein Hund, mein Großvater.
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