Heidenmauer
Nicht dass du meinst, er hätte in diese adagiohaften Takte einfach so reingehustet, nein, das nicht. Er befand sich vielmehr im Gleichklang mit Orchester und Dirigenten, alles sehr verhalten, zurückhaltend, sozusagen im Einklang mit Martha Argerich – mein Großvater …«, er unterbrach sich selbst, »… nun ja, Holland, mieses Wetter, an dreihundertfünfundsechzig Tagen im Jahr ein Himmel wie über Paris im November, das macht krank, nicht nur die Seele … alle erkältet …« Er stöhnte kurz und machte Anstalten die LP oder CD zu suchen. Darauf hatte Lydia Naber nun gar keine Lust.
»Wann warst du das letzte Mal in Paris?«
»Ich bin jedes Jahr in Paris, jedes Jahr.«
»Aha, ist es also eine Französin?«
Er drehte sich ihr nicht zu, sondern werkelte weiter in den Kartons mit LPs, sprach aber langsam und voller Entsetzen: »Gott behüte, eine Französin.«
Dann richtete er seinen knochigen Körper auf und fragte zum Fenster hin. »Kaffee?«
»Lass mal sein – ich bin ja eigentlich auch dienstlich hier.«
Er drehte sich langsam herum, wie ein lauernder Mephisto, trotzdem schwangen die langen dunklen Haare nach. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Ich zahle es ja, Mensch, ich zahle es ja noch. Bin doch bloß noch nicht dazugekommen … wegen dem bisschen Zeugs da … ist doch nicht nötig, einen solchen Aufstand zu machen, Mensch …«
Sie unterbrach ihn harsch und hatte eine böse Vorahnung. »Was zahlst du noch, wovon redest du?«
Er ging quer durch den Raum zum alten Holzschrank, dessen rechte Tür mit einer Schnur am Schloss befestigt war, und holte einen Schuhkarton hervor, auf dessen Seiten rote Lettern Ecco riefen. Papiere quollen über die Ränder. Es raschelte hektisch, während er suchte. »Die haben mir eine Rechnung geschrieben.«
Sie klang mitleidsfrei. »Ich gehe davon aus, dass die, von denen du gerade sprichst, das nicht als Rechnung, sondern als … sagen wir Strafbefehl bezeichnen.«
Fast hätte sie fragen wollen, wo denn die Ecco-Schuhe versteckt waren. Sie kannte ihn nur mit ausgelatschten Turnschuhen. Doch Lydia Naber bemerkte, wie Unruhe in seinen Körper kroch. Endlich kam er mit einem ungeöffneten Kuvert wieder, als dessen Absender die Staatsanwaltschaft Kempten zeichnete.
Sie nahm das Kuvert und hielt es vor sein Gesicht. »Woher weißt du was da drinnen ist?«
Er wog den Kopf. Es war ihm unangenehm. »Mein Gott. Es war auf dem Weg nach Ulm, im Zug. Hinter Hergatz, ich war alleine im Abteil, die Landschaft war so schön, mein Herz frei, da hab ich halt eine geraucht. Kurz darauf ging die Abteiltür auf und eine junge Frau kam herein. Sie blieb da stehen und hat mich lange angesehen.«
»Komm zur Sache!«
»Na ja, es war nicht so, wie ich dachte. Sie hat dann in den Gang gerufen Kommt mal her, und da kamen dann zwei Typen.«
»Zwei Typen?«
»Zwei Kollegen … von dir. Die waren echt nett.«
»Echt nett«, wiederholte sie.
»Ich hab gesagt, ich wäre auf dem Weg zu meiner Oma nach Ulm.«
»Du hast doch gar keine Oma mehr. Opa war doch schon jahrzehntelang alleine am Husten.«
»Es hat ja auch nichts genutzt. Nicht mal, als ich sagte, ich bin auch aus Lindau. Stell dir vor, nicht mal das hat was genutzt.«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Der eine war aus Weiler, der andere aus Tettnang, und die Frau war von ganz wo fremd her.«
»Woher war sie?«, fragte Lydia während sie das Kuvert öffnete.
Er blies nachdenklich Luft durch seine Lippen. »Ich glaube es war Marktoberdorf.«
Die Frist war schon lange abgelaufen. Sie würde das in die Hand nehmen müssen.
»Viel hast du ja Gott sei Dank nicht dabei gehabt.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Das Zeug macht blöd und impotent. Das habe ich dir schon tausend Mal gesagt.«
Er schwieg so virtuos, wie sein Großvater in den Konzerten gehustet hatte.
Sie steckte das Kuvert weg. »Ich kümmere mich drum. Die Kohle will ich so schnell wie möglich wieder zurück, ist mir egal wie, meinetwegen verkaufst du ein paar von den Schallplatten, die knistern eh, oder ein, zwei von den Röhren da. Ist ja bald Weihnachten, und die leuchten schließlich schön.«
Sie drehte sich dem Fenster zu, um etwas mehr Licht zu haben. Es dauerte eine Weile, bis sie aus ihrer Tasche das Bild von Günther Bamm herausgekramt hatte. Sie hielt es ihm hin und fragte, ob er ihn schon mal gesehen habe. Sie erwähnte nichts davon, dass Günther Bamm des Öfteren gleich in der Nachbarschaft zu Besuch gewesen war.
Martin kniff die Augen zusammen
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