Heidi Klum - Chamäleongesicht. Biographie (German Edition)
ein Auto bekommen, doch das holländische Produkt ist vor allem, wie es scherzhalber heißt, dafür bekannt, genauso schnell vorwärts wie rückwärts zu fahren. Damit mehrere hundert Kilometer über die Autobahn nach Bayern zu gondeln und das noch dazu allein, ist für Heidi nicht denkbar. Ein Ex-Freund – mit dem sie mittlerweile Schluss gemacht hat, weil sie im Urlaub mit einem anderen zusammen war - hat Zeit und fährt sie nach München, wo Heidi noch am gleichen Tag in einem Hinterzimmer dem Castingteam Rede und Antwort steht. Es werden Fragen darüber gestellt, was ihre Hobbys sind, wie es in der Schule steht und anderes mehr. „Sie haben uns dämliche Fragen gestellt wie: Was isst du gern? Was hast du für ein Sternzeichen? Sie wollten einfach sehen, ob man Antworten geben kann oder zu scheu ist oder gern schweigt. Schweigen kommt nicht gut im Fernsehen.“ Viele Mädchen sind da, alle mehr oder minder verunsichert. Auch Heidi ist nicht in Topform, findet es schwer, locker zu wirken. Sie hat nicht den Eindruck, dass sie einen besonders guten Eindruck auf die Fernsehleute macht. Als man ihr zum Abschied sagt: „Rufen Sie uns nicht an, wir rufen Sie an“, erwartet sie eigentlich nicht mehr, genommen zu werden. Doch schon am nächsten Tag erfährt sie, dass sie in die Endauswahl gekommen ist. Mittlerweile sind auch ihre Eltern nach Hause zurückgekehrt. Sie hören, dass Heidi ins Fernsehen kommen soll, und dass sie sich entschlossen hat, eine Modelkarriere anzustreben. Der Vater beschwichtigt Heidi, die vor Glück völlig aufgedreht ist: „Mach dir nicht zu viele Hoffnungen.“ Die folgenden Tage stecken voller süßer Erwartungen, und zugleich sind da viele bange Fragen. Zum Beispiel, ob sie gut genug aussieht, um mit den anderen Mädels mithalten zu können. Ob sie das Potential einsetzen kann, dass sie in sich spürt. Denn insgeheim hat sie nach dem, was sie im Fernsehen gesehen hat, keinen Zweifel, dass sie es schaffen kann. Ihr regelmäßiges, fast perfektes Gesicht hat Seltenheitswert. Und auch ihre Figur ist besser als die Figur vieler Mädchen. Was Heidi in diesen Tagen noch nicht berücksichtigt, ist, dass es hier weniger um eine Persönlichkeitswahl geht als um messbare Voraussetzungen für den Modelberuf. Aber auch die Veranstalter sind relativ neu im Geschäft. Was ein Model ist oder zu sein hat und wie man unter den Models weltberühmt wird – dieses Konzept ist Anfang der 1990er noch nicht ganz entwickelt, weshalb sich bei „Model '92“ auch jedes Mädchen, das sich für hübsch hält, bewerben kann. Dass Models aber groß und dünn sein müssen, hat sich schon herumgesprochen, und dafür hat sich ja auch bereits der Spitzname „Hungerhaken“ für Models etabliert. Groß und dünn? Heidi hat keine dieser Eigenschaften. Aber wenn sie sieht, was sich sonst noch in der Sendung tummelt, ist sie trotzdem guter Dinge.
Zwei Wochen später, es ist der 15. April 1992, fährt die Mutter Heidi nach München. Es wird ein Videoclip gedreht. Jedes Mädchen soll vor einem Spiegel ein Lied singen und danach unter einem künstlichen Wasserfall posieren. Heidi singt „Music was my first love“. Danach legt sie sich in einem Pool auf eine Luftmatratze und paddelt vor der Kamera vorbei. Heidi ist nervös. Sie merkt, dass die Sache nicht so leicht ist, wie es vor dem Bildschirm ausgesehen hat. Von einer Kamera beäugt zu werden, ist ihr unangenehm. Und auf Knopfdruck zu funktionieren ist sie nicht gewöhnt. Heidi hat Sorge, genauso albern zu wirken wie die Mädchen, über die sie gemeinsam mit Karin zu Hause abgelästert hat. Doch ihr Einsatz und die Anspannung, so wird sich in kürzester Zeit erweisen, waren die Sache wert. Heidi steht das erste Mal in einer Reihe, um das Ticken der Sekunden vor der Entscheidung zu hören. Es sind die Zuschauer vor den Bildschirmen, die hier entscheiden können. Ihre Abstimmung wird per TED ermittelt. Als sich die Grafik auf dem Bildschirm aufbaut, läuft der Balken mit Heidis Namen weiter als jeder andere Balken. Heidis Anspannung macht Erleichterung Platz, und dann kommt da eine Euphorie, wie sie sie noch nicht gekannt hat. Zuerst ist sie benommen davon, nimmt sprachlos die Gratulation Gottschalks entgegen. Sie ist Tagessiegerin und wird in der nächsten Sendung gegen die Siegerinnen dieses Monats antreten. Als Heidi und ihre Mutter wieder nach Hause nach Bergisch-Gladbach fahren, kann sich Heidi ungehemmt diesem neuen Gefühl hingeben. Die Menschen vor den
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