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Heike Eva Schmidt

Heike Eva Schmidt

Titel: Heike Eva Schmidt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Purpurmond
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geschmissen und mit beiden Fäusten laut schreiend auf den Boden gehauen, um meinen ganzen Frust und meine Panik herauszubrüllen. Aber weil ich inzwischen 16 war und wusste, dass das nichts an der Situation ändern würde, atmete ich zweimal tief durch und versuchte, kühl und logisch zu überlegen. Aber mein Kopf war so leer wie ein Computerbildschirm nach einem Totalabsturz. Vor lauter Verzweiflung liefen mir schon wieder zwei salzige Rinnsale aus den Augen. Wenn das so weiterging, waren meine schulfreien Tage gelaufen.
    »Und, was hast du in den Osterferien so gemacht, Cat?«
    »Ach, nur jeden Tag geheult. Und du? Warst du mit deinen Eltern wieder in eurem Ferienhaus in der Toskana?«
    Natürlich war weit und breit kein Taschentuch in Sicht. Das letzte Mal, als ich eines greifbar gehabt hatte, war ich in dem dunklen Verlies eingesperrt gewesen und hatte den kupfernen Halsreif poliert. Vielleicht fand sich ja noch ein zweites irgendwo in den Tiefen meiner Klamotten. Schniefend griff ich in die Seitentasche der zerfransten Cargohose, die ich bei der vermaledeiten Drudenkeller-Party getragen hatte. Tatsächlich berührten meine Finger etwas Weiches. Als ich es herauszog, war es aber kein weißer Zellstoff, sondern etwas Fleckig-Hellbraunes. Angeekelt warf ich es von mir. Hatte Sina mir an dem Abend etwa irgendein widerliches »Andenken« in die Tasche gesteckt? Als ich genauer hinsah, entdeckte ich schwarze, unregelmäßige Buchstaben: »… arm dich mein o herre g …« Die Erleichterung war so stark, dass mir fast schwindlig wurde: Ich hatte das Schriftstück aus dem Verlies gefunden!
     
    Minuten später hockte ich immer noch auf dem Fußboden. In meinem Zimmer. Im Jahr 2012. Ich hatte es nicht über mich gebracht, die geschriebenen Worte auf dem Lederstück laut zu lesen. Beim ersten Versuch war mir die Stimme völlig weggeblieben. Beim zweiten Mal war nur ein klägliches Piepsen aus meinem Mund gekommen, das sich eher nach einem Vogel mit Kehlkopfentzündung angehört hatte als nach einer menschlichen Stimme.
    Ich versuchte, mich zusammenzureißen, aber in meinem Kopf rotierte die immer gleiche Frage wie ein hyperaktiver Hamster in seinem Rad: Was, wenn ich diesmal nicht mehr zurückkäme und für immer in der Vergangenheit festsitzen würde?
    Wie ein Supermarktkunde, der sich ständig an der Kasse vordrängelte, schob sich dieser Gedanke in mein Bewusstsein, egal, wie sehr ich versuchte, ihn beiseitezuschieben. Andererseits: Wenn ich feige hier hocken bliebe, würde ich den Bann nie lösen können. Wütend schlug ich mit der flachen Hand auf den Boden. Was für ein Schlamassel! Fast so, als triebe man im Ozean auf einem Floß und hätte die Wahl, sich entweder von einem Hai fressen zu lassen oder zu verdursten.
    Ich warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr: zehn nach fünf. In den alten Hollywoodfilmen tranken die Leute um diese Zeit ihren ersten Whiskey. In meiner Situation eine verlockende Vorstellung. Ich zog ernsthaft in Erwägung, vor meiner Zeitreise noch einen zu heben, um mir gleich darauf vorzustellen, wie ich im 17. Jahrhundert betrunken durch die Gassen des alten Bambergs taumeln und dabei lauthals »Alles wird gut« von Bushido singen würde.
    Dann brach ich ab, weil die Vorstellung, wie dumm die feinen Damen in ihren Taftkleidern glotzen würden, ein hysterisches Kichern in mir hochsteigen ließ wie Kohlensäurebläschen in einem Glas Sprudelwasser. Ich war ganz offensichtlich kurz vorm Durchdrehen.
    Energisch kniff ich mich in den Arm, um mich zur Ordnung zu rufen. Eine geschlagene Stunde drückte ich mich nun schon um die erneute Zeitreise herum. Sicher wäre das auch so geblieben, hätte ich nicht einen sanften, aber unmissverständlichen Druck auf meine Kehle verspürt: Der Kupferreif erinnerte mich an die Worte der alten Frau Hahn aus dem Haus mit dem Messingtürklopfer: »Finde sie, sonst wirst du nie mehr frei sein!«
    Ich holte tief Luft und schlüpfte in meine Klamotten, die ich das letzte Mal angehabt hatte, als es mich durch die Zeit geschleudert hatte. Ich hatte keine Lust, mir noch mehr teures Zeug zu ruinieren. Oder angestarrt zu werden, weil ich Jeans trug. Das »Hexe, Hexe«-Geschrei des kleinen Knirpses hatte mir gereicht. Vor meinem inneren Auge tauchte wieder der brennende Scheiterhaufen auf. Besser, ich wappnete mich gegen Leute, die mich wegen meiner roten Haare blöd anmachten.
    Entschlossen lief ich zu meinem Schreibtisch und zog die unterste Schublade auf. Darin lag das

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