Heilige Mörderin: Roman (German Edition)
mal von dem Physiker René Blondlot gehört? Nein, wahrscheinlich nicht.«
»Stimmt, nie von ihm gehört.«
»Er war ein französischer Forscher aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Anfang des 20. Jahrhunderts verkündete Blondlot die Entdeckung einer neuartigen Strahlung. Diese N-Strahlen, wie er sie nannte, ließen sich angeblich anhand der Helligkeit einer Gasflamme nachweisen. Sie galten als epochemachende Entdeckung und lösten eine Sensation in der Welt der Physik aus. Aber am Ende stellte sich heraus, dass die Strahlen nur in Blondlots Wahrnehmung existierten. Andere Wissenschaftler konnten ihre Existenz nicht nachweisen.«
»Es war also ein Schwindel?«
»Nicht gerade ein Schwindel. Blondlot selbst glaubte an die Existenz der N-Strahlen.«
»Wie konnte das sein?«
»Zum einen überprüfte Blondlot die Helligkeit der Flamme nur mit seinen Augen. Das war der Ursprung seines Irrtums. Dass die Flamme heller wurde, wenn er N-Strahlen einsetzte, war eine optische Illusion, sein Wunschdenken sozusagen. Die Geschichte zeigt, wie gefährlich vorgefasste Ansichten sind. Deshalb habe ich Ihnen auch kein Vorwissen zugestanden, weshalb Ihre Informationen jetzt auch höchst objektiv sind.« Yukawa richtete seinen Blick wieder auf Utsumis Protokoll.
»Und? Sind wir der rein theoretischen Lösung praktisch näher gekommen?«
Yukawa las weiter, ohne zu antworten. Zwischen seinen Brauen stand eine tiefe Falte.
»Es waren also tatsächlich mehrere Mineralwasserflaschen im Kühlschrank«, murmelte er wie zu sich selbst.
»Das fand ich auch seltsam. Frau Mashiba sagte, sie ließe die Flaschen nie ausgehen. Dennoch war, als sie am nächsten Tag zu ihren Eltern abreiste, nur noch eine Flasche übrig. Was bedeutet das?«
Yukawa verschränkte die Arme und schloss die Augen.
»Professor?«
»Ausgeschlossen.«
»Wie bitte?«
»Das ist völlig ausgeschlossen. Aber –« Yukawa nahm seine Brille ab und presste die Finger auf die Augenlider.
Kapitel 22
Kusanagi ging vom Bahnhof Iidabashi die Kagurazaka-dori hinauf und bog gleich hinter dem Bishamon-Tempel links ab. Er lief einen weiteren steilen Hang hinauf, bis rechter Hand das Gebäude auftauchte, das er suchte.
Er betrat die Eingangshalle. An der linken Wand hingen Tafeln mit den Namen der im Gebäude ansässigen Firmen. Der Kunugi Verlag befand sich im ersten Stock.
Es gab einen Aufzug, aber Kusanagi nahm die Treppe, was sich als schwierig erwies, da der Flur voller Kartons stand. Ein eindeutiger Verstoß gegen die Brandschutzrichtlinien, aber heute würde er nichts sagen.
Die Tür zum Verlag stand offen. In dem großen Büro saßen mehrere Angestellte an Schreibtischen. Die junge Frau, die der Tür am nächsten saß, bemerkte Kusanagi und kam auf ihn zu.
»Kann ich etwas für Sie tun?«
»Ist Herr Sasaoka im Haus? Ich habe gerade mit ihm telefoniert.«
»Ah, ja, hier«, ertönte eine Stimme. Ein untersetzter Mann schaute hinter einem Schrank hervor.
»Herr Sasaoka?«
»Ja, worum geht’s?« Er öffnete die Schublade eines Schreibtisches und nahm eine Visitenkarte heraus, die Kunio Sasaoka als Verlagsleiter auswies.
Auch Kusanagi zog eine Visitenkarte hervor und überreichte sie dem Mann.
»Das erste Mal, dass ich eine Karte von einem Polizisten bekomme. Ein interessantes Andenken.« Sasaoka drehte die Karte um und sog erstaunt die Luft ein. »›Für Herrn Sasaoka‹ haben Sie ja schon daraufgeschrieben. Und das heutige Datum. Aha, um Missbrauch zu vermeiden, nicht wahr?«
»Bitte, nehmen Sie das nicht persönlich. Das ist die übliche Praxis.«
»Aber nein, das ist doch eine verständliche Vorsichtsmaßnahme.«
Sasaoka führte Kusanagi in einen einfachen Empfangsbereich.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie von der Arbeit abhalte.« Kusanagi setzte sich auf das schwarze Kunstledersofa.
»Das macht nichts. Bei uns geht es ziemlich ruhig zu, anders als bei den Großen.« Sasaoka lachte laut. Er wirkte sympathisch.
»Wie ich Ihnen bereits am Telefon sagte, habe ich einige Fragen zu Junko Tsukui.«
Das Lachen verschwand aus Sasaokas Gesicht.
»Ich habe direkt mit ihr zusammengearbeitet. Sie hatte großes Talent. Wirklich schade um sie.«
»Kannten Sie Frau Tsukui länger?«
»Ja, könnte man sagen, etwa zwei Jahre. Sie hat zwei Bücher für uns gemacht.«
Sasaoka stand auf und holte zwei Bilderbücher aus seinem Regal. »Das sind sie.« Er reichte sie Kusanagi. Sie hießen Der Schneemann schwankt und Die Abenteuer von Taro, dem
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